Eine Lektion

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Dieses Gerede nervte. Immer war jemand bei ihr und belästigte sie mit seinen Worten. Sie wollte ihre Ruhe haben. Warum verstanden sie es nicht? Dachten sie etwa, ihre Meinung wäre nichts wert, nur weil sie ein kleines Kind war? Sie wollte allein sein. In Ruhe.

„Ria, da vorne gibt es Eis. Möchtest du welches? Das soll ganz lecker sein."

Finster starrte sie die dicke Frau an. Sie wollte kein Eis. „Ekelhaft."

Zufrieden sah sie, wie die Frau nicht mehr ganz so freundlich wirkte. Diese Miene, die sie jetzt zur Schau trug, erinnerte an die des Mannes, der sich wie ihr Vater benahm, wenn er sauer war. Aber dieser Mann war nicht ihr Vater. Er würde niemals wie ihr Vater sein. Freiwillig hätte ihr Vater sie nie verlassen. Dieser andere Mann – Kemal – schon.

Eine Hand schloss sich schmerzhaft fest um ihren Oberarm. Die dumme Frau zerrte sie zurück in das große Haus, in dem sie jetzt mit ganz vielen anderen nervigen Menschen lebte. Nicht einmal in ihrem Zimmer hatte sie ihre Ruhe. Andauernd war diese dumme Frau bei ihr. So wie jetzt. Jetzt waren sie aber nicht in ihren Zimmer. Die Frau brachte sie in dem Raum, in dem sie aßen. Der Tisch war bereits gedeckt. Sie hatte keine Lust aufs Essen.

Die Frau ließ sie los und stieß sie gegen den Tisch. Schmerzhaft schlug sie sich den Kopf am Stuhl an. Das tat weh. Mit zitternden Knien zog sie sich hoch. Ihr Papa hatte nicht geweint und sie würde das auch nicht tun. Im Fernsehen hatte sie gesehen, dass sie sich wehren konnte. Mit dem Messer.

„So du kleine Kröte." Auf einmal war die Frau vor ihr. „Du wirst gefälligst das tun, was von dir erwartet wird."

Trotzig schüttelte sie ihren Kopf. Sie war nicht Mama und auch nicht Papa. Sie war eine gemeine und nervige Fremde. Eine Fremde, die ihr wehtat.

Die Frau trat einen Schritt auf sie zu und hob drohend die Hand. „Dir werde ich beibringen das zu tun, was ich dir sage."

Schnell griff sie nach dem Messer.

 

Als der Mann, der sich wie ihr Vater aufspielte, in den Raum trat, hatte sie ein paar ruhige Minuten hinter sich. Eines hatte sie heute ganz gewiss gelernt: Wer seine Ruhe will, muss stark sein.



  Ria, 6 Jahre


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So, eine neue Geschichte. Ja, ich weiß, die andere ist noch nicht fertig. Mein Bruder wollte unbedingt, dass ich Rias Geschichte mit euch teile.

Ich hoffe, sie gefällt euch ebenso gut, wie Teufelsnacht. Oder vielleicht sogar noch besser? Ich bin gespannt.

Eure Ama :3

Rot wie Blut [Schattenseelen 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt