Wendungen

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Aus Sorge um ihre Freunde und um Frust abzubauen, lief Ria geradewegs zur Kampfschule. Ein Kampf mit Dimi oder Demo käme ihr gerade recht. Da es aber noch ein wenig zu früh für den Schulbetrieb war und die Brüder immer erst kurz vor Unterrichtsbeginn in der Kampfschule auftauchten, kletterte sie kurzerhand auf einen der Bäume im Hof und beobachtete von dort aus die Enten im Teich nebenan.

Es war ein angenehm warmer Frühlingstag, eigentlich schon fast Sommer. Entspannt ließ sie die Beine im warmen Wind baumeln. Hier war es so herrlich ruhig und abgeschieden. Eine kleine Oase der Ruhe in einer lauten, geschäftigen Stadt. Sie spürte, wie sie innerlich allmählich zur Ruhe kam. Von irgendwoher hörte sie einen Vogel fröhlich sein Liedchen trällern. Neugierig lauschte sie tiefer in ihre Umgebung. Ihre Sinne schienen sich weiter intensiviert zu haben. Sie hörte eine ganze Menge ungewohnter Dinge. Neben dem Vogelgezwitscher und dem leisen Liebesgeflüster der Bäume hörte sie jetzt auch den Verkehr. Darunter ein Gemisch aus Geräuschen, deren Richtung sie eindeutig zuordnen konnte. Der Nachbar hustete gerade, in dem Haus dahinter schrie ein Baby. Die Nachbarskatze wurde von dem Sohn durchs Haus gejagt und in der Ferne bellte ein Hund.

Begeisterung ergriff von ihr Besitz. Neugierig horchte sie weiter in ihre Umgebung. Bald schon wusste sie, dass im Baum neben ihr ein Vogelnest war und sich im Gebüsch vor den Turnhallen eine Maus versteckte.

Als näherkommende Schritte einen Gast ankündigten, versteckte sie sich im Laub. Ihr Instinkt riet ihr, sich nicht zu erkennen zu geben. Wer immer das sein mochte, war entweder ein furchterregender Freund oder Feind. Für die Schüler war es jedenfalls noch zu früh.

Kurz darauf erschien ein großer, schlaksiger Mann in ihrem Blickfeld, der zielstrebig auf den Eingang der Schule zuhielt. Er hatte dichte braune Haare, die sich an den Rändern leicht lockten. Ein verboten aussehender schwarzer Ledermantel zierte seine geradezu überdimensional breiten Schultern. Etwas stimmte nicht mit diesem Mann, aber Ria konnte nicht genau sagen was es war. So lautlos wie möglich kletterte sie auf den niedrigsten Ast. Bereit einzugreifen, sollte er etwas Schlimmes im Schilde führen.

In dem Moment, in dem der Fremde klingelte, erreichte sie den Erdboden. Mit einer Hand zog sie eines ihrer Messer, mit der anderen Ihre Pistole. Gleichzeitig nutzte sie ihre neue Sinnesschärfe, um herauszufinden, ob sich noch jemand näherte. Außer den Lehrern in der Wohnung schien sich niemand anderes auf dem Gelände aufzuhalten.

Die Tür wurde geöffnet. Dimitrios verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust und starrte den Fremden ein wenig abweisend an. Stahl blitzte in der Sonne auf.

Ria hatte dem Fremden eine Kugel durch die Hand gejagt, sobald sie das Messer gesehen hatte, war aber leider nicht schnell genug gewesen. Der Grieche glitt verletzt zu Boden. Sie hörte das Getrampel im Flur hinter ihm und wusste, dass die anderen sich um ihn kümmern würden. Sie selbst setzte dem Fremden hinterher, der sich mit fast schon übermenschlicher Geschwindigkeit abzusetzen versuchte. Es wurde eine wilde Jagd über Zäune und Hecken, durch dunkle Gassen und belebte Straßen, ja sogar über Dächer. Sie war schon fast am Ende ihrer Kräfte, als es ihr endlich gelang, das Knie des Mannes zu durchschießen. Der Länge nach legte er sich auf die abgeschiedene Pflasterstraße. Sie befanden sich im Außenbereich eines der weniger belebten Stadtviertel.

Mit großen Augen sah der osteuropäisch anmutende Mann zu ihr auf. Er hatte gehofft, einer jungen, mitleidigen Frau gegenüber zu stehen. Aber Ria war alles andere als mitleidig. Völlig mitleidslos trat sie gegen das durchlöcherte Knie. Er schrie auf, bettelte schon fast um Gnade.

„Was für ein Weichei du doch bist", stellte sie herablassend fest. Sie an seiner Stelle würde nicht einknicken. Mit einem barbarischen Grinsen auf den Zügen zog sie ein Messer und ließ es geradezu zärtlich über seinen Hals wandern. „Tut es weh? Bei deiner Hand hast du nicht so ein Theater gemacht. Warum also jetzt?"

Rot wie Blut [Schattenseelen 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt