³ FREITAG, 21:56 Uhr

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seit genau zwei Stunden liegt mein stummgestelltes Handy im obersten Flurschrank. Und aller fünf Minuten verspürte ich das juckende Verlangen es zu holen.
Es ist krank.
Die Gesellschaft ist krank.
Oder meine Angst, irgendwas zu verpassen, ist einfach zu riesig.

Indessen ich die vor einer halben Stunde abgespülten Teller und Tassen zum Abtrocknen wieder in die Hände nehme, male ich mir die Party aus. Immerhin ist heute letzter richtiger Schultag gewesen. Ein Grund zum Feiern.

Mir ist nicht nach lauter Musik, laute Gespräche und laute Zweifel in der Öffentlichkeit.
Vielleicht will ich auch einfach nur testen, ob mich jemand vermisst.

Manchmal verstehe ich mich einfach nicht mehr. Verstehe nicht, wer ich sein soll. Was mich ausmacht. Warum ich nicht so denken kann wie die anderen...

Warum ist es so schwer für mich eine Beziehung einzugehen? Mehr als dreimal hatte ich die Chance dazu und es waren auch alles supernette Leute, aber-

Krachend knallt der Teller direkt neben meine Füße auf den Dielenboden. Scherben flattern mit Leichtigkeit über den Boden, bis sie von der Wand oder den Möbeln abgebremst werden.
Tief durchatmend schließe ich die Augen. »Super.«
Träge kehre ich alles zu einem Haufen zusammen und entsorge ihn im Müll.
Noch weniger Geschirr, juhu.

Ein Kloß beginnt sich in meinem Hals zu bilden. Bevor jedoch die ersten Tränen kullern, frage ich mich tatsächlich, ob es jetzt wegen dem Geschirr oder etwas anderem ist.

Mit verzerrter Miene lasse ich mich gegen den Küchenschrank plumpsen. Lege die flache Hand gegen die Stirn, um extra konzentrierter an traurige Sachen zu denken. Denn nichts ist schlimmer als dieser Druck hinter den Augen. Außer Krieg vielleicht.

Doch mein Blick ist einfach nur starr auf den Boden gerichtet. Keine verschwommene Sicht, kein heißes Wasser. Einfach nur... Druck.

Plötzlich hallt die schrille Klinger durch die Wohnung. Verdattert sehe ich zur Uhr am Herd, dann zum dunklen Flur.
Herzklopfen. Jemand denkt an mich. Vermisst mich.
Will wissen, ob alles okay ist.

Unbeholfen komme ich auf die Beine, taumele zum Knopf neben der Wohnungstür und lasse die Person herein. Ich hoffe so, so sehr, dass es Matteo ist. Das ist er mir verdammt nochmal schuldig.

Schritte im Treppenhaus nähern sich, weshalb ich mit angehaltenem Atem die Finger auf die Klinke lege. Ein Klopfen, direkt auf der Höhe meines Kopfes.
Mit einem Klicken löst sich der Riegel, weshalb ich die Tür aufziehe und...
»Ich habe mal wieder FBI gespielt.«

Alles in mir erstarrt. Das soll ein Witz sein.
Das soll ein mieser, beschissener Witz sein.
Verblute ich gerade wegen den Scherben in meiner Küche und male mir Sachen aus, um schneller ins Koma zu fallen? Oder will mich das Schicksal einfach nur abfucken?

»Hey... Ist alles okay?«

Drei Worte. Sanfter, einfühlsamer Unterton.
Entweder das oder mein konstantes Nicht-Blinzeln in den letzten Minuten bringen mich zum Heulen.

Mein ganzer Körper beginnt mit einem Mal zu Beben. Ich schaffe es gerade noch mir die Hand vor den Mund zu halten, sonst wäre das Schluchzen wahrscheinlich noch lauter durch das Treppenhaus gehallt.

»Shit, hey. Alles gut.«
Hendriks Hand findet meinen Hinterkopf, womit er mich beschützend an seine Brust drückt. Gemeinsam schiebt er uns ins Innere der Wohnung und verschließt die Tür.
Irgendwie.

Alles, was ich sehe, ist ein dunkler Fleck auf einem dunkelgrünen Pullover. Hören tue ich eine beruhigende Floskel, bei der ich nur die ruhige Stimme und nicht die Wörter wahrnehme.

»Ach, Scheiße.«, höre ich mich irgendwann sagen. Um noch die letzten Sekunden dieser Geborgenheit zu spüren, drücke ich meine Stirn tiefer in seine Brust.
»Ich weiß gerade nicht, ob ich jetzt gerade passend oder unpassend hier aufgetaucht bin.«
Ein raues Lachen dringt überraschenderweise aus meiner Kehle, ehe ich den Kopf hebe und den Fleck von diesem Winkel betrachte. »Tut mir leid, dass ich dich vollgesabbert habe.«
»Kein Ding. Gibt schlimmeres.«

Doch ich traue mich noch nicht aufzusehen. Mein Blick ist fixiert geradeaus gerichtet.
Und somit vergehen Sekunden, die sich wie peinliche Stunden anfühlen.

»Urgh«, stoße ich aus, drehe mich halb zu der Kommode und hole ein Taschentuch hervor. Geräuschvoll versuche ich den Rest Nervenzusammenbruch aus mir heraus zu schnäuzen.

Endlich sehe ich wieder in Hendriks Gesicht. Mittlerweile hat er die Kapuze seiner dunklen Jacke abgenommen, weshalb diese eine Haarsträhne fast kerzengerade in die Höhe zeigt. Die anderen verteilen sich kreuz und quer in seiner Stirn.
»Warum bist du hier?«, frage ich leise. Ich habe echt keine Kraft, um gehässige Coolheit in den Vordergrund zu legen.

»Du antwortest nicht auf meine Nachrichten und warst nicht bei eurer kleinen Abiparty. Ich fand jemanden, der deine Adresse kennt und bin mit der Bahn hierhergefahren.«
Wieder beginnen Tränen in mir zu quellen.
»Aber warum?«, frage ich noch leiser. Das Taschentusch wird immer mehr von meinen Fingern zusammengeknüllt.
»Ich habe mir Sorgen gemacht, nehme ich an.«

Genau das. Diese Worte stehen auf meiner List, die ich endlich mal von jemanden hören wollte.

Stumm nehme ich ihn erneut in eine Umarmung. Diesmal schlinge ich die Arme fest um seine Taille und lege die Wange gegen seine Brust.
Unbeholfen erwidert Hendrik die Umarmung.

»Danke, dass du dir Sorgen gemacht hast.«, flüstere ich, lasse von ihm los und machen einen Schritt zurück.
»Jetzt kannst du wieder gehen.«

Es dauert eine Sekunde, bis die Worte zu ihm durchsickern. Verdutzt schüttelt Hendrik mit dem Kopf.
»Gehen? Ich bin doch gerade erst angekommen!«
»Ja und jetzt möchte ich, dass du wieder gehst.« Mit dem Finger wische ich mir die restlichen Tränen weg.
»Du hast gerade deine Seele in meinen Armen ausgeheult, Tilda. Darf ich bitte erstmal erfahren, ob es dir gut geht?«
»Alles okay. Kannst du jetzt bitte...« Ich deute zur Tür, weshalb seine Augenbrauen nur noch weiter in die Höhe gehen.

Er denkt bestimmt, dass ich eine Meise habe.
Gut, dann geht er vielleicht für immer.

»Wer hat dich mental nur so sehr geschädigt, dass du bei der kleinsten Frage in Tränen ausbrichst?«, murmelt der Junge, nun mit einem traurigen Gesichtsausdruck.
»Mir geht es gut. Ich bin nur wegen der Schule etwas fertig und...«
»War es ein Junge? Dein Ex?«

Perplex sehe ich zu ihm auf, öffne den Mund und schließe ihn wieder. »Hendrik, ich verspreche dir, dass es nichts bedeutet. Ich habe einfach nur massig Angst vor dem Abitur und bin etwas kaputt im Hirn.« Mein falsches Lachen verändert nichts an seiner Mimik.
»Warum verteidigst du es?«
»Was?«
»Mentale Probleme sind ganz normale-«
»Okay, dass geht zu weit. Ich habe keine mentalen Probleme. Ich bin einfach nur eine Perfektionistin in der Abi-Zeit.«

An ihm vorbei drücke ich die Klinke nach unten. Nur leider geht die Tür nicht auf, während er direkt davorsteht.
»Könntest du vielleicht...«
»Wen hast du erwartet? Ich habe deinen Blick gesehen. Du hast dir jemand anderen erhofft.«

Ohne eine Antwort zu geben, verschränke ich die Arme vor der Brust und sehe ihn ungeduldig an.

»Ein Freund? Dein Freund? Die Person, die du vielleicht liebst oder-«
»Gott, warum muss sich alles immer darum drehen. Liebe hier, Liebe da. Er hat sie gefickt, die und die sind jetzt zusammen.«, presse ich mit der gehässigsten Stimme, die ich je an mir gehört habe, aus mir heraus.
Hendrik öffnet überrascht die Lippen einen Spalt. Kurzzeitig wendet er den Blick ab. »Daran liegt es also.«
»Tilda, wie lange ist es her, dass du deine Gedanken mal jemanden laut mitgeteilt hast. Ich meine nicht dir selbst unter der Dusche, sondern einer wirklich anderen – realen – Person.«

Was will er denn jetzt von mir?

Unbeeindruckt verziehe ich das Gesicht, bemerke jedoch das Zucken in meinem Auge.

»Wie lange ist es her, dass du jemanden geliebt hast?«, flüstert er vorsichtig.

Ich weiß nicht warum, aber die Frage trifft einen bis jetzt versiegelten Punkt. Schluckend schlinge ich die Arme um den Körper.
»Du willst eine Antwort, warum ich hier bin?«
Schwach breitet Hendrik die Arme aus.
»Vielleicht wollte das Schicksal, dass dir endlich mal jemand zuhört.«

MELANCHOLIE ᵈʳᵘᶜᵏWo Geschichten leben. Entdecke jetzt