⁴ MITTWOCH, 16:28 Uhr

94 6 1
                                    

»wie kommst du überhaupt auf die Idee, per Textnachricht Schluss zu machen? Verdammt, ihr seht euch fast täglich in der Schule?«
Matteo auf der anderen Seite des Telefonats gibt ein frustriertes Seufzen von sich.
»Keine Ahnung. Ich dachte, nach all dem Scheiß, den ich abgezogen habe, reicht das aus.«
»Man merkt, dass du keine Ahnung von Mädchen hast.«, sage ich amüsiert, überfliege den Straßennamen und biege nach rechts ab.
»Auch egal. Sie hat mir eine Standpauke gegeben und gut ist.«
»Ich bin stolz auf dich, echt.«
»Klingt nicht gerade so.«

Ein Poltern und ein kurzes Shit. Rascheln. Wahrscheinlich hat er sich auf sein Bett geschmissen.
»Meine ich aber. Und morgen triffst du dich wieder mit David?«
»Ja. Er hat mir nur diese Koordinaten geschickt.«
Ich schmunzle. Süß. »Wie mystisch. Hoffentlich kidnappt er dich nicht.«

Rechts, links Blick und ich jogge über den Asphalt, ehe ich die Seitenstraße erreiche, welche ich seit zwanzig Minuten ansteure.

»Und bei dir? Hat Mia dir die Adresse gegeben?«
»Sie hat Alexander dazu genötigt sie rauszurücken. Bin ehrlich gesagt auch gerade auf dem Weg zum ihm.«
»Echt jetzt? Dann halte ich mein Handy lieber gleich in der Hand, falls du Hilfe brauchst.«
»Freundlich, aber ich glaube, ich bekomme das hin. Sollte es schieflaufen, wirst du ja sehen, ob ich heulend in deinem Zimmer stehe.«

Erneutes Rascheln. »Ne, aber ohne Spaß. Wenn irgendwas passieren sollte, kannst du sofort herkommen. Ich kann dir auch entgegenkommen oder dich irgendwo abholen.«
Mein Mini-Me im Herzen gibt ein kitschiges Narw von sich.

»Danke. Muss los, stehe vor dem Gebäude.«
»Viel Glück.«
»Danke, bye.«
»Tschö.«

Während ich die helle Fassade nach oben blicke, stecke ich das Handy zurück in meinen Beutel.
Dann mal los...

Mein Finger drückt etwas zu fest auf die Klingel mit den drei Nachnamen. Ohne die Beschriftung, hätte ich durchklingeln müssen.
»Jo?«
Nicht Hendrik.
»Ähm... Hey! Ist Hendrik da?«
»Ja, warum?«
»Ich müsste mal mit ihm sprechen.«
Augenblicklich dringt das allbekannte Rauschen an mein Ohr und ich drücke die Tür auf.
»3B«, sagt die Stimme noch, danach wird aufgelegt.

Während ich für jede Stufe mindestens drei Sekunden brauche, lege ich mir im Kopf bereits die ersten Worte zusammen. Sollte ich direkt mit einem Entschuldigen anfangen oder mit einem Witz erstmal die Lage checken? Entweder lacht er mich aus, dass ich immer noch daran hänge oder er ... lacht gar nicht.

3B. Tiefeinatmend ziehe ich den Sauerstoff in die Lungen und schüttle die Handgelenke aus.
Als plötzlich mitten in meinem Vorbereitungsritual die Tür aufgeht, halte ich erschrocken inne.
»Willst du uns überfallen oder was machst du da?«
Es ist der Typ, der ebenfalls mit Hendrik und Alexander im Hinterhof war.
Olli, glaube ich.

»Nein, ich... Egal. Kann ich mit Hendrik reden?«
»Warum eigentlich?« Seine Augen verengen sich zu schlitzen, während er sich locker gegen die Tür lehnt und mich betrachtet.
Meine Güte, ich habe Wörter für Hendrik vorbereitet. Nicht sein komischer Mitbewohner.

Neben dem schwarzen Haarschopf erscheint ein blonder. So richtig platinblond oder wie ich auch gern sage: Draco-Malfoy-blond.
»Oh, hey. Du bist Tilda, richtig?«
»Ähm...ja.«
Draco Malfoy schiebt seinen Kumpel von der Tür weg und öffnet sie ganz.
»Ich bin Chris. Hendrik ist in seinem Zimmer.«
»Danke. Immerhin einer, der ordentlich jemanden empfängt.«, seufze ich ehrlich erleichtert.

Chris lacht leise, tritt an die Seite und deutet auf die hinterste Tür.
»Er ist schon seit Samstag ein Miesepeter. Muss auch in einer halben Stunde los zur Spätschicht im Parkhaus.«
»Danke.«, murmle ich. Anscheinend wissen die beiden, wer ich bin. Nicht nur meinen Namen.

Zögerlich trete ich an die hellbraune Tür und klopfe. Es wird für wenige Sekunden ruhig, dann Schritte. Hendrik erscheint mit ungekämmten Haaren und einem lockeren weißen Shirt vor meinen Augen. »Wusste, dass du es bist. Die Jungs klopfen nicht.«
Ertappt schaut er hinter mich, wo Chris und Olli hektisch weiterlaufen.
Sein Blick landet wieder auf mir.
Witz oder Entschuldigen?

»Hör zu...«, beginne ich vorsichtig. »Es tut mir leid, dass ich so ausgerastet bin. War nicht okay.«
Entschuldigen, also.

Hendrik macht einen Schritt zur Seite, sodass ich in sein Zimmer treten kann. Sofort sehe ich von den aufgehängten Fotos und Zeichnungen, hinweg zu der Gitarre und schließlich zu dem ungemachten Bett.
Der Junge schiebt sich an mir vorbei und lässt sich auf besagtes Möbelstück plumpsen. Mit einem Blick, der mich irgendwie einschüchtert, blickt er zu mir herauf.
»Und ich nehme zurück, was ich über die Sache mit den Drogen meinte. Immerhin gehören sie zu unserem Planeten dazu.«

Als er mich weiterhin schweigend ansieht, gehen mir langsam die Ideen an Sätzen aus. Mit verschränkten Fingern sehe ich mich erneut im Zimmer um.
Auf seinem Schreibtisch liegen verschiedenste Stifte, eine Zigarettenschachtel und eine leere Packung Soft-Kekse. Ein Schmunzeln stielt sich auf meine Lippen.
»Bekomme ich welche-«
»Sind leer.«
Sofort verstumme ich wieder und lasse den Kopf sinken.

»Himmel, warum bist du so unterwürfig.«, lacht er leise. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie Hendrik sich wieder erhebt.
»Natürlich bekommst du einen. Habe deine ja auch fast leer gefuttert.«
Als er mir die ganze Packung gibt, nehme ich sie zögernd in die Hände.
»Keine Frage, dass ich dir verzeihe. Konnte dich ja immerhin auch verstehen. Stehengelassen zu werden ist scheiße.«
Mein Herz hängt irgendwie immer noch an seiner unterbrechenden, fiesen Stimmlage.
»Schon okay.«

»Ich hätte dir spätestens heute Abend geschrieben, aber wenn du schon einmal hier bist.«
Hendrik breitet die Arme aus. »Willkommen in meinem Reich.«
Da mir der Appetit vergangen ist, lege ich die Kekse zurück und schaue mir stattdessen die Bilder und Zeichnungen an.
»Hast du die gemacht?«
»Nope. Eine Freundin kann mega gut zeichnen und schenkt mir auf Partys immer ein Exemplar. Während unserer Schulzeit hat sie auch oft im Unterricht gemalt, deswegen sind so viele Bleistiftzeichnungen dabei.«
Gemischte Gefühle durchfluten meinen Körper bei diesem Geständnis. Trotzdem muss ich zugeben, dass sie verdammt gut sind.
»Sie sollte Kunst studieren.«
»Macht sie sogar gerade. Irgendwo in Sachsen. Dresden, glaube ich.«
»Kenne ich sogar.«, murmle ich mehr zu mir selbst. Die Fotos zeigen hauptsächlich Partymomente. Grinsende Betrunkene, amüsierende Zwischenfälle oder...
»Wer ist das?«

Hendrik lehnt sich neben mir etwas mehr an die Wand. »Oh, dass ist... «
Er fasst sich an den Hinterkopf. Peinlich berührt?
»Das ist Larissa. Meine Ex.«
»Ahh«, sage ich, als wäre es das Interessantes der Welt. Schnell sehe ich weiter, um das Thema vom Tisch zu kehren.

»Kannst du spielen?« Ich zeige zu der Gitarre hinter seinem Bett.
»Ein wenig. Manchmal habe ich Phasen, wo ich einfach alles Mögliche ausprobieren will. Zeichnen, Gitarre, Jonglieren, Skaten,... Die Liste ist lang.«
»Beeindruckend.«
»So kennt man mich.«, erwidert er mit seinem doofen, schiefen Grinsen. Schmunzelnd werfe ich einen erneuten, aber raschen Blick über seine Wand voller Erinnerungen.

»Ich nenne sie, die Wand des Ichs. Sind irgendwie Dinge, die mich so ein bisschen ausmachen, verstehst du?«
»Verstehe ich.«

Ich weiß nicht einmal, was mich ausmacht.
Irgendwie habe ich immer daran geglaubt, dass jeder verwirrt mit sich selbst ist. Nicht weiß, wie man sich selbst beschreiben soll.

»Willst du was trinken?«
»Nein, danke.«, erwidere ich trocken. Nachdem ich alles absorbiert habe, fällt mein Blick wieder auf Hendrik. Seine dunklen Augen sind direkt auf mich gerichtet und plötzlich kommt mir der Raum verdammt klein vor. Zu klein für zwei Personen.

Mit einem Räuspern löse ich die komische Luft zwischen uns auf. »Okay, dann... Mache ich mich mal wieder auf den Weg. Chris meinte, dass du eh gleich loswillst.«
»Leider. Sehen wir uns die Woche noch einmal? Ich würde dir gerne etwas zeigen.«
In diesem Augenblick will ich einfach nach Hause.

»Mal schauen. Wollte noch für Englisch nächste Woche lernen und Matteo-«
»Kein Stress. Schreib mir einfach.«
Ich lächle schwach.
»Bye.«
Die Umarmung kommt etwas überraschend, weshalb ich nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Doch etwas beruhigendes hat sie schon.

»Danke, dass du hier warst. Wirklich.«
»Klar doch.«

Auf dem Weg nach draußen weiche ich den neugierigen Blicken von Olli und Chris aus.

MELANCHOLIE ᵈʳᵘᶜᵏWo Geschichten leben. Entdecke jetzt