⁹ DONNERSTAG, 18:13 Uhr

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»hendrik.«
Mit geschlossenen Augen und hinter dem Kopf verschränkten Armen liegt der Junge entspannter denn je auf meinem Bett.

Entweder hat er bemerkt, dass ich ihn anstarre oder die Pause im Gespräch war zu lange.
Er öffnet die Augen, sieht mich auf der Kante des Bettes sitzen.
Beides.

»Alles okay?«
»Ja, nur... Irgendwie fühlt es sich jetzt anders an als vor all diesem Chaos.«
»Das nennt man eingestehen der Gefühle. Befreiend, nicht wahr?«
Ich werfe ein Kissen nach ihm, welches er lachend abfängt. Die Matratze unter uns knarzt leicht als sich Hendrik auf die Unterarme stemmt.

Nachdem er noch am Samstag aus dem Krankenhaus entlassen wurde, haben wir uns für eine ganze Stunde getrennt, nur um danach wieder zu mir zu gehen.
...und jetzt ist schon Donnerstag.
Der Abiball ist morgen.
Mein Leben als Schüler endet morgen.

Dafür beginnt ein neues Kapitel in meinem Leben.
Ich weiß nur noch nicht, was in ihm steht.

Hendrik beobachtet mich noch immer genau und da ich seit Tagen nur noch daran danken kann, lehne ich mich im nächsten Augenblick nach vorne und drücke meine Lippen vorsichtig auf seine.
Mehr als zwei Sekunden waren es nicht.

Hendrik öffnet den Mund, schließt ihn wieder, dreht den Kopf leicht zur Seite. »Darf ich jetzt fragen, ob ich dir einen richtigen Kuss zeigen kann?«
War das keiner?

Ich schlucke, dann muss ich plötzlich lachen. Leicht nach vorne gebeugt versuche ich wieder etwas ernster zu werden, doch dieser Augenblick ist gerade amüsanter als er eigentlich war.

»Sorry, aber...«
»Sscht. Jetzt bin ich doch etwas ungeduldig.«, raunt Hendrik mit tiefer Stimme, umschließt mein Gesicht mit beiden Händen und zieht mich zu sich.
Zuerst denke ich bereits schon wieder viel zu viel nach, doch als seine Daumen sich unter mein Kinn legen, um es leicht anzuheben, ist es irgendwie um mich geschehen.

Ich denke überhaupt nicht mehr nach. Gebe Hendrik die Oberhand und will mich einfach nur in diesem unbeschreiblichen Gefühl einhüllen.

Behutsam schiebt der Junge seine Hand unter meinen Schenkel, was mich kurz erschrocken aufatmen lässt, doch er zieht mich einfach näher zu sich heran. Und somit geschieht es auch, dass ich auf seinem Schoß lande.

Ertappt hebe ich den Kopf und sehe ihn an.
Hendriks Lippen sind noch einen Spalt geöffnet, während ich tief den Sauerstoff durch meine Nase ziehe, um mein rasendes Herz unter Kontrolle zu bekommen.
»Ich muss kurz atmen.«

Ein tiefes Lachen dringt aus seiner Kehle, dann lässt er sich zurück in die Kissen fallen.
Der Fakt, dass ich immer noch auf ihm sitze, nagt bereits an meinem Gewissen. Als würde es mir überhaupt nichts ausmachen, steige ich gespielt lässig wieder von ihm herunter und lege mich stattdessen neben ihn.

Wie bereits seit vier Tagen sehen wir uns mehrere Sekunden schweigend an. Dann hebe ich wie in Trance den Finger und fahre ganz vorsichtig über Hendriks Stirn, hinweg über seine Nase, seine Lippen bis zu seinem Kinn.
Als müsste ich mich vergewissern, dass da wirklich ein Mensch neben mir liegt.
Dass ich diesen Menschen gerade geküsst habe, ihm nah wahr, wie noch nie jemanden zuvor.
Es fühlte sich an wie ein Alkoholrausch.
Mit der darauffolgenden Leere.
Fuck.

»Wann beginnt morgen dein Abiball?«
»15 Uhr«
»Gut, davor möchte ich dir noch etwas zeigen.«

MELANCHOLIE ᵈʳᵘᶜᵏWo Geschichten leben. Entdecke jetzt