⁷ FREITAG, 13:40 Uhr

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wahrscheinlich ist es meine eigene Schuld, wenn ich in meiner letzten Prüfung eine schlechte Punktzahl erreiche. Ich konnte nicht anders.
Immer wieder sind meine Gedanken zu dem ausgefüllten Bogen in meinem Rucksack gewandert. Und den Moment, in welchem ich sie Hendrik zurückgebe.

Mit dem Klingeln endet nicht nur die Prüfungszeit, sondern auch meine gesamte Schulzeit.
Doch wie gesagt: Andere Gedanken sind gerade mehr im Vordergrund.

Angespannt durchquere ich den Flur und schiebe mich an den Leuten auf der Treppe vorbei. Ich will nicht hochsehen und diesen Jungen irgendwo sehen. Will nicht wissen, was er mit den Informationen auf diesem Zettel anfängt.
Plötzlich werde ich langsamer.
Dass muss ich doch eigentlich auch nicht. Ich hätte diese Fragen nie beantworten brauchen. Hätte Hendrik einfach schreiben können, dass es zu weit geht.

Hektisch öffne ich meinen Beutel im Laufen und ziehe den braunen Umschlag heraus. Ehe ich mich versehe, verschwindet er bereits im Mülleimer neben dem Treppenaufgang.
»Nicht, womit ich gerechnet habe, aber... ich habe dich zu nichts gedrängt.«
Erschrocken sehe ich nach oben. Hendrik lehnt direkt an der Wand neben der Treppe und hat die Hände in die Jackentaschen geschoben. Er wirkt ein wenig verletzt, doch das übersehe ich absichtlich. Versuche es jedenfalls.

»Wie war Geographie?«
»Kann ich dir beantworten, wenn die Ergebnisse da sind.«
Nickend stößt er sich ab. Als mein Handy plötzlich in der Tasche zu vibrieren beginnt, will ich es ignorieren, doch dann nehme ich erst das Gemurmel um uns wahr. Auch auf der Treppe hatten sich kleinere Gruppen gebildet.
Shit.

Hastig hole ich das elektronische Gerät hervor und öffne den Jahrgangschat. Ich sehe nur das Standbild des Videos plus die Kommentare dazu und weiß augenblicklich was gerade passiert.
Mein Blick wirbelt herum. Versucht ein vertrautes Gesicht ausfündig zu machen. Matteo schaut genau in dem Moment nach oben, wo ich ihn an der Säule stehen sehe.

Am Samstag erzählte er mir noch, wie schwer es für David war diese Worte zu sagen und jetzt weiß es die gesamte Schule.
»Alles okay?«, höre ich hinter mir fragen.
Die Gespräche verstummen und David kommt langsam die Treppe nach unten.
Warum müssen ihn alle so anschauen? So angaffen, als wäre es das größte Problem auf Erden?

»Nicht. Ich glaube, dass die beiden es selbst regeln müssen.«, raunt Hendrik in mein Ohr, als ich bereits ein Schritt in Matteos Richtung gemacht habe. David ist davongestürmt, wobei er Teo nicht gerade unsanft irgendwas ins Gesicht gesagt hat.
»Glaubst du.«, fauche ich unterdrückt, bleibe jedoch stehen und drehe mich wieder um.
Hendrik blickt durch seine Teddybär-Augen zu mir herunter.

»Wollen wir zur dir gehen?«
Ich kann genau erkennen, dass er sieht, wie ich mich fühle. Dass ich ihn am liebsten erneut in eine Ignorieren-Phase schicken würde.
Ein paar Sekunden schaue ich die Person mir gegenüber einfach an. Versetze mich zurück, wie verstanden ich mich in seinen Armen fühlte und versuche dies mit der Situation jetzt zusammenzusetzen.

Manchmal will mein Hirn einfach nicht glauben, dass Menschen gleichbleiben und sich nicht jeden Tag einen neuen Charakterzug aussuchen, wie es bei mir der Fall ist. Sich keine andere Maske aufsetzen.
Ich nicke knapp.



Den Weg bis kurz vor meiner Wohnungstür haben Hendrik und ich in Schweigen vollbracht

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Den Weg bis kurz vor meiner Wohnungstür haben Hendrik und ich in Schweigen vollbracht. Hin und wieder hat er mich nur fragend angeschaut, doch ich habe mit einem Hauch eines Lächelns versichert, dass alles okay sei.
Ich weiß nicht, ob alles okay ist.

»Willst du was essen?«
Indessen ich die Schlüssel in die Schale im Flur lege, werfe ich dem Jungen einen fragenden Blick zu.
»Wir könnten etwas bestellen?«
»Ich habe noch eine Tiefkühlpizza im Frost.«, erwidere ich.
Hendrik zuckt mit den Schultern, nickt beiläufig.
»Okay.«
»Ich gehe sie mal in den Ofen legen. Bin gleich zurück.«
Die unwohle Stimmung kann ich fast mit bloßer Hand anfassen so spürbar ist sie.

In Gedanken versunken öffne ich die Tür zum Froster, ziehe die Verpackung heraus und sehe auf die appetitliche Abbildung. Vielleicht sollten wir doch etwas bestellen...
Es könnte das Beisammensein um einiges sympathischer gestalten als diese Tiefkühlkost.
Mit einem leichten Kopfschütteln befördere ich sie also wieder an ihren ursprünglichen Platz.

Hendrik und ich könnten uns doch einen ganz gemütlichen Nachmittag gestalten. Leckeres Essen, tiefe Gespräche und...
Wie paralysiert bleibe ich im Durchgang zum Zimmer stehen. Wenige Sekunden vergehen, dann entdeckt mich der Junge ebenfalls. Ertappt lässt er langsam das Handy sinken.
»Du hast die Zettel wieder aus dem Müll genommen?«, frage ich in einer sehr leisen und bedrohlichen Stimmlage.
»Tilda... Es ist vielleicht besser, wenn wir das Ergebnis kennen. Besser für dich.«, murmelt Hendrik vorsichtig.

Zögernd stelle ich mich neben ihn und blicke auf meine eigene Handschrift herunter.
»Ich habe es nicht detailliert gelesen. Und Larissa wird es auch nicht, sie-«
»Du schickst das an Larissa?«, frage ich entgeistert. Sofort sträubt sich alles in mir auf.
Was fällt diesem Vollidioten eigentlich ein? Wer denkt er, wer er ist?

»Ihre Mutter ist Psychologin und ich verspreche dir. Sie hat mir versprochen, es sonst niemanden zu erzählen. Erst durch sie kam es zu diesem Fragebogen.«
»Also hast du mit ihr über mich geredet?«
Er legt den Kopf etwas schief. »Redest du nicht mit Matteo oder deinen Freunden über mich? Und ich bezweifle, dass es nur positive Dinge sind.«
Natürlich tue ich das.

Während sich in meinem Kopf wieder beruhigende Gedanken ansammeln, verschränke ich mit einem undefinierbaren Blick die Arme vor der Brust.
»Was war ihre Vermutung?«
Ich will es wissen und gleichzeitig auch überhaupt nicht.
Hendrik zögert, verzieht die Lippen zu einer Linie.
»Bitte.«, hänge ich leise hinten dran.
Er hebt den Blick. »Borderline.«

Eine Persönlichkeitsstörung? Natürlich habe ich mich in einem Nervenzusammenbruch darüber mehr als belesen, doch es nun von jemand anderen zu hören, macht die Sache realer. Und gruseliger.

»Okay, schick es ab.«
»Wirklich?« Hoffnung blitzt in seinen Augen auf.
Ich nicke. Beiläufig, als würde es um das einfachste auf der Welt gehen.
»Ich will es doch auch irgendwie wissen.«

Innerhalb der nächsten fünf Sekunden ist es vollbracht. Meine Antworten sind auf direkten Weg in professionelle Hände.

Räuspernd lockere ich die Schultern und sehe zu Hendrik auf, welcher leichtem Stolz das Handy auf den Tisch neben die Papiere legt. »Hast du Lust auf Griechisch?«

MELANCHOLIE ᵈʳᵘᶜᵏWo Geschichten leben. Entdecke jetzt