Kapitel 12

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Kelly 

Er steht keine zwanzig Zentimeter von mir entfernt. Und trotzdem habe ich weder Panik noch das Bedürfnis, den Abstand zwischen uns wieder zu vergrößern. Ich kann meinen Blick nicht von seinen Augen lösen. Erst jetzt fallen mir die kaum merklichen, goldenen Sprenkel in diesem tiefen Grün auf. Ich könnte ihm hier und jetzt eine Ohrfeige geben, dafür, dass er mich vor unser beiden Freunden so gefühlslos beleidigt hat. Dafür, dass er sich auch nach einer ganzen Woche nicht hat blicken lassen, um sich zu entschuldigen, für das, was er gesagt hat. Seine Worte sind wie eine schallende Ohrfeige gewesen, welche einen roten Handabdruck auf meiner Wangehinterlassen hätte.

Aber ich tue es nicht. Ich stehe weiterhin einfach ganz ruhig da, ebenso wie er und versinke immer mehr in dem endlosen Grün seiner Augen. Er bereut es. Wie er mit mir umgesprungen ist. Was er mir alles an den Kopf geworfen hat. Das er sich nicht entschuldigt hat, für all das. Er bereut alles. Zum Einen erkenne ich es daran, dass er sich bis vor einer Stunde ein Bier nach dem anderen runter gekippt hat, zwischendurch auch mal das ein oder andere Glas Wiskey. Aber vor allem sehe ich es in seinen Augen. Sie strahlen so viel Reue aus, wie man mit Worten nie beschreiben könnte. Das verführerische, provokante, lüsterne Funkeln ist verschwunden. 

Er hat mit mir gesungen. Und seine Stimme ist mehr als wunderschön gewesen. Rau und tief, aber gleichzeitig auch in so viel Gefühl und Sehnsucht getränkt, dass ich nicht anders gekonnt habe, als das Spielen der Tasten ruhen zu lassen und auf ihn zuzugehen. Und jetzt sagt keiner von uns ein Wort. Beide sind wir immer noch viel zu sehr von dem Moment gefangen, sprachlos und überwältigt. Die Spannung im Raum scheint greifbarer, als jemals zuvor. Und genau das ist der Grund, warum niemand von uns etwas sagt, sich regt, geschweige denn bemerkt, dass wir beinahe vergessen zu atmen. 

 Komischerweise habe ich, als ich vor wenigen Minuten noch am Klavier gesessen habe, keine Bilder vor meinen Augen gehabt. Ich habe nicht für mich gesungen. Ich habe für ihn gesungen. Als ich ihn draußen gesehen habe, bin ich zu Alex in die Küche und habe Jonela gebeten, für mich zu übernehmen. Ich habe schlichtweg versucht, der Konversation mit ihm aus dem Weg zu gehen. Viel zu groß meine Angst, er könnte mich ein weiteres Mal so fertig machen, wie vor einer Woche. So runter putzen, allein mit der Kraft seiner Worte. Doch als Mo hat schließen wollen -  Jonela ist schon längst weg gewesen - hat Harvey immer noch am Tresen gesessen. Den Kopf auf seinen Armen gebettet, hat er geschlafen. So hat es für mich zumindest ausgesehen. Ich habe Mo und Alex überreden können, mir den Zweitschlüssel zu geben und nach Hause zu gehen. Ich habe ihn so nicht aufwecken wollen. Außerdem ist es mir wie die perfekte Gelegenheit vorgekommen, ihn zu fragen, was das vor einer Woche nach dem Volleyballspiel gewesen sein soll. Ich habe meinem Bruder für dieses Wochenende abgesagt, da ich nicht gewollt habe, dass er mich so sieht. Schon wieder so zerstört. Am Boden zerstört von einem Jungen, den ich eigentlich kaum kenne. Ganz davon zu Schweigen, dass mir nicht klar wird, warum sich mein Bruder so plötzlich bei mir gemeldet hat.  

"Es tut mir leid." Seine leicht benommene Stimme holt mich in das Hier und Jetzt zurück. 

"Alles was ich gesagt habe. Es tut mir so unendlich leid." Ich bin mir sicher, dass gerade der Alkohol aus ihm spricht, aber dennoch sind es genau die Worte, auf die ich seit sieben Tagen warte. 

"Ich weiß." Als er nichts sagt, nehme ich eine Regung seiner Hände war. Die Eine legt sich ganz vorsichtig - als wäre ich aus Glas - an meine Wange. Ohne es kontrollieren zu können, schmiege ich mich ihr entgegen, nehme sie kurz darauf allerdings in meine Hände und sehe wieder zu ihm auf. 

"Wir sollten gehen. Es ist schon spät. Außerdem bist du betrunken." Das Glitzern, was für den Bruchteil einer Sekunde in seine Augen getreten ist, verschwindet. Dennnoch entzieht er sich mir nicht.

Find myself - A lie. A love. A mess.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt