Kapitel 15

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Kelly

"Killian!" Ich sehe meinen Bruder auf mich zukommen. Hinter ihm rauscht der Zug schon wieder aus dem Bahnhofsgebäude davon. Er hat sich verändert. Das fällt mir sofort auf. Erst jetzt realisiere ich, wie sehr ich ihn die letzten vier Jahre vermisst habe. Er ist ausgezogen, kaum das er achtzehn geworden ist. Aus welchem Grund auch immer hat er sich mit unserer Mutter vor Jahren so zerstritten, dass sie bis heute kaum ein Wort miteinander reden. Zu den Geburtstagsfeiern ist er nie aufgetaucht, hat mir nur Postkarten oder Briefe geschickt, dass es ihm gut geht und wir uns bald wieder sehen werden. 

"Erde an El?" Erst jetzt bemerke ich, dass mein Bruder direkt vor mir steht und mit mit einem besorgtem Ausdruck in den Augen ansieht. Ich habe ihn vermisst. Sehr. 

"Hm? Sorry, ich war gerade irgendwie in Gedanken." Kaum ist die Entschuldigung über meine Lippen, falle ich ihm auch schon um den Hals und spüre seine Arme, welche sich um meine Taille legen. 

"Ich hab dich so vermisst, weißt du das?" Killian ist der Erste, der sich aus der Umarmung löst und seine Stimme wieder findet. Vermisst? Warum ist denn nie vorbei gekommen? Warum hat er nicht früher den Kontankt zu mir gesucht? 

"Und ich dich erst! Du hast mit immer geschrieben, dass wir uns bald wieder sehen. Unter 'bald' verstehe ich allerdings etwas anders, als vier Jahre!" In meiner Stimme schwingt mehr Vorwurf mit, als ich es beabsichtigt habe. Dennoch kann ich mich dafür nicht entschuldigen. Ich werde nicht vergessen können, dass er mich von ein auf den anderen Tag einfach allein gelassen hat. Dafür sitzt der Schmerz zu tief.  

"Ich weiß, bitte Entschuldige. Mir ist klar, dass ich dich nicht einfach hätte allein lassen dürfen. Aber Caroline-" 

"Unsere Mutter.", unterbreche ich ihn. Ich sehe sofort, wie er stark die Luft einsaugt und mit sich ringt. Doch dann spricht er einfach weiter, als hätte ich nichts gesagt. Er hat mir das Problem zwischen ihnen nie erklärt. Ob ich es jetzt noch hören will, weiß ich nicht. 

"Sie hat mich wahnsinnig gemacht. Ich bin mit ihrem Druck, den sie Tag für Tag auf dich und mich ausgeübt hat, einfach nicht mehr klar gekommen. Und als das dann passiert ist, habe ich mich gefühlt wie ein Versager. Ich habe dich nicht beschützen können und das hat jedenTag und jede Nacht an mir genagt. Tut es immer noch." Da sind sie wieder. Die Vorwürfe, welche er sich selbst macht. Wenn es ihm so zugesetzt hat, warum ist er dann nicht einfach bei mir geblieben? Ich werde einfach nicht schlau aus diesem Kerl. 

"Killian. Du warst, bist und wirst nie ein Versager sein. Du bist mein Bruder, den ich über alles schätze und liebe. Ich sage es dir gerne noch einmal. Du hättest mich davor nicht beschützen können, und selbst wenn, ich war und bin alt genug. Es ist nicht deine Aufgabe, jede Sekunde meines Lebens auf mich aufzupassen. Auch wenn ich trotzdem nicht verstehen kann, warum du mich und Mum allein gelassen hast." Ich habe ehrlich keine Ahnung, wie oft ich ihm das schon versucht habe, einzutrichtern. Killian blockt jedes Mal aufs Neue ab. Augenblicklich kommt mit Harvey wieder in den Sinn. Wie soll ich meinem Bruder das nur erklären?  

"Ich bin dein großer Bruder. Es ist meine Pflicht-" 

"Killian, jetzt hör mir doch mal zu! Es ist nicht deine Pflicht! Hör verdammt nochmal auf, dich von diesem falschem, schlechten Gewissen innerlich auffressen zu lassen!" Ich pausiere kurz, um meine Lautstärke wieder den Ort anzupassen. Wir stehen nach wie vor auf dem Bahnhof, weshalb ich nun ruhiger weiter rede. 

"Lass uns erstmal zu deinem Motel fahren und deine Sachen unterbringen. Wir können dann weiter diskutieren. Außerdem will ich dir heute noch meine Freunde vorstellen." Einwilligend nickt mir mein Bruder zu, schwingt sich wieder seine Tasche über die Schulter und folgt mir schweigend zu meinem Auto.  

Find myself - A lie. A love. A mess.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt