KAPITEL 16

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Habt einen schönen zweiten Advent, ihr Lieben!

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Juni 1999

John

“Ring, ring!” Schon wieder klingelt das Telefon. Entnervt stehe ich von meinem Schreibtisch auf und schließe die Tür zum Flur, ich kann gerade wirklich keine Störungen brauchen. Ich bin echt nur froh, dass wir in der KelLife so viele Mitarbeiter haben, die sich um die meisten Anrufe im Büro kümmern und dass ich nicht mehr wie früher selbst ständig telefonieren muss. In den meisten Fällen ist es sowieso nur die Presse mit irgendwelchen Anfragen und die wenigen wirklich wichtigen Anrufe werden meistens zu Joey durchgestellt, der im Büro gegenüber von mir sitzt. Schnell setzte ich mir meine Kopfhörer wieder auf, der an meinem Computer angeschlossen ist.

Da ich ja schon seit Jahren für das gesamte Videomaterial der Kelly Family zuständig bin, habe ich nun den Auftrag bekommen, passende Videos und Liveaufnahmen für eine Best Of-VHS herauszusuchen, die zusammen mit einer CD im Herbst oder Winter erscheinen soll. Noch ist die Auswahl der Songs nicht abschließend getroffen, denn die Auswahl ist wirklich schwierig und wir können uns kaum einigen. Leider haben wir einfach viel zu viele erfolgreiche oder beliebte Songs aus den mittlerweile fast 20 Jahren Bandgeschichte, sodass wir unmöglich alle auf eine einzelne Platte packen können. Die bekannten Songs wie An angel, Who’ll come with me, Nanana, First Time, I can’t help myself und Why Why Why sind natürlich eh schon fest gesetzt. Dazu kommen dann aber auch noch unsere eigenen, persönlichen, Lieblinge, die am besten auch noch auf das Best Of sollen, was die ganze Sache nicht gerade einfacher macht. Paddy zum Beispiel würde gerne One more freaking dollar dabei haben, Joey besteht auf Key to my heart und Kathy hat sogar das ganz alte Greensleeves vorgeschlagen. Momentan sieht es danach aus, als könnten wir sogar gut und gerne zwei Best Of Alben zusammenstellen, wenn nicht sogar drei. Die Frage ist natürlich nur, ob sich das auch verkaufen und somit finanziell lohnen würde. Zumindest ist unsere neue Single Children of Kosovo dank einiger Fernsehauftritte und Presseartikel ganz gut angelaufen, aktuell steuern wir damit die Single Top 10 an, was für uns inzwischen ein sehr gutes Ergebnis ist. Natürlich ist es dabei aber auch der wohltätige Zweck der Einnahmen sowie der Kosovokrieg selbst, der die Menschen vielfach zum Kauf anregt.

Ich stehe gerade auf, um in der Archivbox neben mir ein wenig in den VHS-Kassetten zu stöbern, als die Tür plötzlich von unserer Mitarbeiterin Anja aufgerissen wird. »Johnny? Kennst du zufällig einen Ryan Collins? Er hat gerade vorne in der Zentrale angerufen und behauptet, ein Freund von Jimmy zu sein und ihn in Irland in der Klinik kennengelernt zu haben!«
Kurz stutze ich und versuche mich daran zu erinnern, wie die Freunde von Jimmy hießen, mit denen er immer zusammen Musik gemacht hat. Aber ich kann mich definitiv nicht mehr an irgendwelche Namen erinnern. Dafür kenne ich zu wenig Details, aber zumindest weiß ich, dass Jimmy immer noch auf der Suche nach seinen irischen Freunden ist. »Sorry, ich weiß leider keine Namen... aber wenn dieser Ryan von der Klinik weiß, dann muss da ja etwas dran sein. Hat er zufällig etwas von gemeinsamen Musizieren gesagt?«, antworte ich.
»Naja, er hat erwähnt, dass er irgendein Instrument spielt, Bod- irgendwas? Ich habe keine Ahnung mehr, wie es hieß.« Anja lacht peinlich berührt und zuckt mit den Schultern, aber ich habe tatsächlich eine Idee: »Bodhrán wahrscheinlich, die kleine irische Trommel, das würde zumindest Sinn machen.«
»Du hältst die Geschichte also wirklich für glaubwürdig?«, fragt Anja zweifelnd nach. »Er sollte die Nummer doch normalerweise haben, wenn er wirklich ein Freund von Jimmy ist, oder?«
Ich muss schmunzeln, sie kennt Jimmy eindeutig nicht so gut wie ich. »Ich glaube das ist komplizierter, Anja«, beruhige ich sie. »Kannst du mir seine Nummer aufschreiben? Dann sag ich Jimmy später Bescheid.«


Jimmy

»Bye, Anna, es war wirklich schön mit dir.« Ich nehme die schmale Hand der hübschen Brünetten, mit der ich die Nacht verbracht habe, in meine und deute einen Handkuss an.
Sie lächelt, wirft ihre langen Haare nach hinten über die Schulter und zieht sich das Band ihrer Handtasche über den Kopf. »Ja, war es. Mach’s gut, Jimmy. Vielleicht sehen wir uns ja.«
Wohl eher nicht, aber das weiß sie ebenso gut wie ich. Es ist nur, was man eben so sagt nach einer Nacht. Wir spielen in zwei Tagen in Lissabon, danach geht es direkt weiter nach Orense und Ljubljana. Also no chance, und das war auch nicht die Absicht dieser Nacht. Von ihr aus nicht und von mir genauso wenig.

Ich öffne die Tür zum Hinterausgang aus dem Hauptgebäude und sehe Anna nach, wie sie in ihren hohen Schuhen zu ihrem Auto läuft, das in der Seitenstraße vor dem Hintereingang geparkt ist.
Ja, die Nacht mit ihr war gut. Aber es war nicht einmal mein bester One-Night-Stand, nur einer von zugegeben ein paar in den letzten Wochen. In letzter Zeit hatte ich nach den Konzerten immer wieder Frauen auf den Hotelzimmern oder wie jetzt, wo wir zurück in Gymnich sind, Anna. Wir haben uns beim letzten Konzert in der Westfalenhalle kennengelernt, wo sie an den Merchandise-Ständen gearbeitet hat und mir durch ihre hochgewachsene, schlanke Gestalt sofort aufgefallen ist.

Natürlich hilft es nicht dabei, Gwen ganz zu vergessen, aber ich denke zumindest weniger an sie. Ich muss Gwen wirklich aus meinem Kopf bekommen, dringend. Es macht eh keinen Sinn, weiter an sie zu denken, wenn ich sie ohnehin nicht finden kann. Leider ist sie zu vergessen nicht so leicht, wie ich dachte. Immer mehr Momente unserer Gespräche in der Klinik tauchen in meiner Erinnerung auf, Gespräche, die ich damals nicht so wahrgenommen habe, weil ich mit mir selbst beschäftigt war. Aber mit ihr zu reden hat mir geholfen, weil ich das Gefühl hatte, dass sie mich versteht. Weil sie endlich einmal jemand war, der mich nicht wie einen Star behandelt hat. Gut, sie wusste es anfangs auch noch nicht, aber selbst nach meiner Offenbarung hat sie sich mir gegenüber nicht anders verhalten. Vermutlich auch, weil sie uns nicht so gut kennt, immerhin haben wir nur selten in Irland gespielt. Aber es tat gut, unglaublich gut, und mir ist klar geworden, dass ich vor allem die Gespräche mit ihr vermisse.

Ohne die Ablenkung durch die ein oder andere Frau wäre mir in letzter Zeit auch ziemlich langweilig geworden. Joey ist meistens in der Firma beschäftigt, macht Sport oder trifft sich mit Tanja, Tricia ist fast nur noch bei Denis. Ich für meinen Teil freue mich auf Lissabon und die nächsten Konzerte – das ist definitiv die beste Ablenkung von Gwen.
»Jimmy, dein Ernst?«, empfängt mich natürlich die mahnende Stimme meines Bruders Johnny, als ich in die Küche komme. »Schon wieder eine neue Frau?«
Seufzend gehe ich zur Kaffeemaschine. »Ich dachte, wir wären früh genug aufgestanden«, bemerke ich.
»Muss gleich ins Büro«, erwidert Johnny und ich spüre seinen Blick auf mir ruhen. »Warum so viele, Bro? Muss doch echt nicht sein. Die Richtige findest du doch so auch nicht.«
»Ich will überhaupt nicht die Richtige finden«, wiederhole ich, leicht genervt. Ernsthaft? Will Johnny mir jetzt Vorhaltungen machen?
»Was dann?«, versucht Johnny zu verstehen.
Ich zucke die Achseln. »Ablenkung. Einfach nur Ablenkung. Ich passe schon auf.« Ich kann mir nicht verkneifen, ihm zuzuzwinkern.
Johnny verdreht die Augen. »Idiot.« Er leert seine Kaffeetasse, stellt sie in die Spülmaschine und wendet sich zum Gehen, dreht sich dann aber doch nochmal um. »Ach, wie hießen nochmal deine Kumpel damals in Irland? Im Entzug, mit denen du Musik gemacht hast?«

Ich schlucke. Really? Soviel zum Thema Vergessen. »Tom, Ryan und Gwen.«
Johnny runzelt die Stirn. »Ryan Collins zufälligerweise?«
Perplex starre ich meinen Bruder an. »Ja. Woher weißt du das?«
Jetzt schmunzelt John. »Bei Anja in der Firma hat sich gestern ein Ryan Collins gemeldet und wollte dich sprechen. Er hat gesagt, dass ihr im Entzug befreundet wart, sie ist natürlich direkt erstmal zu mir gekommen.«
»Really?« Ich kann es nicht glauben. Ryan hat in der Firma angerufen? »But… why, I mean… ich hab doch mit seiner Schwester telefoniert, wieso hat er mich nicht direkt angerufen? Hat er sonst noch etwas gesagt?«
»Nur, dass er Bodhrán spielt, und er kann ja nicht wissen, dass du im Entzug warst, wenn er es nicht ist, deshalb hielt ich seine Geschichte für glaubwürdig«, meint Johnny.
»Seine Schwester hat gesagt, dass sie keinen Kontakt mehr haben, also hat er meine Nummer vielleicht auch nicht bekommen«, meine ich.
Johnny klopft mir auf die Schulter und gibt mir einen Zettel. »Kannst ihn selbst fragen«, schmunzelt er. »Hab seine Nummer aufgeschrieben.«


Joey

Ende Juni 1999

Eigentlich bin ich immer noch ein bisschen sauer, dass sich mein Herr Bruder Victor James weiterhin aus Firmenangelegenheiten heraushält und bis auf Filmaufnahmen keinerlei Sonderaufgaben übernimmt. Johnny, Paddy als musikalischer Leiter und ich haben die meiste Verantwortung und es ist ein sehr geschickter Vorteil, dass ich damals die Terminplanung von Jimmy übernommen habe. Ich verstehe nicht wirklich, warum Jimmy immer noch so außen vor bleibt, immerhin ist er jetzt seit fast einem halben Jahr wieder zurück. Aber niemand hat bisher ein Wort darüber verloren oder ihn gefragt, ob er sich wieder in der Firma engagieren will, jedenfalls nicht, dass ich es mitbekommen hätte. Inzwischen habe ich so viel Verantwortung, dass ich in solche Entscheidungen eingebunden gewesen wäre, hätte man darüber nachgedacht, Jimmy wieder Aufgaben zu übergeben.
Wir haben schon 1996, als ich mit den ersten Wettkämpfen anfing, die Konzerte und meinen Sport eng abgestimmt, sodass ich immer einen Überblick hatte und auch gut mit planen konnte. Da ich dies jetzt aber bis auf die Absprachen mit unserem Tourmanager weitgehend selbst in der Hand habe, kann ich meine Wettkämpfe noch besser in unseren Konzertkalender einbauen.

So ist der Ironman in Roth zum Beispiel ein feststehender Termin für mich, den ich um nichts auf der Welt absagen würde. Ich brauche diesen Wettkampf, um den Rekord von acht Ironman in einem Jahr zu schaffen. Leider fällt in diesem Jahr aber ausgerechnet ein besonderes Ereignis auf diesen Tag, einer der wenigen TV-Auftritte dieses Jahr. Wir sind zu Michael Jackson & Friends eingeladen, eine große TV-Spendenaktion, bei der wir im Münchner Olympiastadion auftreten sollen. Die Veranstaltung wird in zwei Stadien stattfinden, eines in Seoul, das andere in München. Außer uns sind für das Konzert in Deutschland unter anderem Peter Maffay, die All Saints, Sasha, die Scorpions, Zucchero, Status Quo sowie natürlich Michael Jackson selbst nach seinem Auftritt in Seoul eingeladen. Ein unbedingter Pflichttermin für uns alle, wie Paddy mir ein paar Tage vor dem Event einbläut. Natürlich hat er mitbekommen, dass Roth am selben Tag stattfinden wird.
»Ich hab alles im Griff«, erkläre ich. »Wir spielen um 19.30 Uhr, nach uns sind nur noch Genesis und Michael selbst dran. Wenn ich morgens starte, schaffe ich den Ironman in zehneinhalb Stunden und fliege danach direkt nach München.«
Paddy starrt mich fassungslos an. »You are totally nuts«, schüttelt er nur den Kopf. »Wehe, du schaffst es nicht. Wir brauchen dein E-Gitarrensolo für Children of Kosovo
»Natürlich schaffe ich das«, erwidere ich.

Aber es läuft nicht alles so glatt wie mein Trainer und ich es geplant hatten. Natürlich kann an solch einem langen Wettkampftag viel passieren, auch körperlich, und als ich schließlich auf die Laufstrecke gehe, merke ich, dass ich langsamer bin als ich vorher ausgerechnet habe. Es fällt mir doch schwerer als ich dachte. Vielleicht liegt es an den wenigen Stunden Schlaf, immerhin haben wir am Abend vorher auch ein Konzert gespielt. Die Laufstrecke zieht sich plötzlich unendlich, das Ziel rückt in weite Ferne. Aber ich muss es schaffen, nicht nur aus Prinzip, sondern weil ich als Botschafter der Deutschen Post auch hier Spenden sammle. Aufgeben ist nicht. Nicht mit mir.
Ich kämpfe mich durch, bis mein Trainer mir kurz vor dem Ziel vom Streckenrand her zuruft, dass Paddy angerufen hat, ob ich schon im Flieger sitze. Ich schnaube nur. Paddy kann mich mal. Ich habe ein Ziel vor Augen und werde jetzt bestimmt nicht aufgeben. Niemals.

Ich kämpfe mich tatsächlich ins Ziel, auch wenn ich zwischendurch wirklich dachte, ich packe es nicht mehr. Kaum angekommen, springe ich auf das Motorrad meines Trainers, das mich zum Flugplatz bringt, von wo aus ich mit einem Hubschrauber nach München geflogen werde. Weil ich wirklich sehr knapp dran bin, schaffe ich es nur noch, im Laufen zum Olympiastadion mein Kostüm überzuziehen, die Haare zusammenzubinden und auf die Bühne zu springen – kurz bevor der erste Song beginnt.
Paddy wirft mir einen ungläubigen Blick zu, ich zucke nur die Achseln. Ich kapiere sein Problem nicht, ich bin doch da. Pünktlich sogar.

Wir singen als erstes Children of Kosovo, ich muss ein wenig über Kathys extrem ausladende Armbewegungen grinsen. Sie war schon immer eine Drama Queen. Aber gut, es ist heute eine besondere Veranstaltung. Danach singen wir noch We are the world, was sich ein wenig seltsam anfühlt, immerhin ist es ja ein Jackson-Song. Aber wir lieben den Song alle, und zum Anlass passt es sowieso.
Nicht nur Patricia ist heute warum auch immer nicht dabei, auch Jimmy fehlt, wie bei allen TV-Veranstaltungen zur Zeit. Ich verstehe, dass er immer noch gehörigen Respekt vor den After Show-Parties hat und nicht in Versuchung geraten will, aber meiner Meinung nach hätte er trotzdem bei der Übertragung dabei sein können.

Wir schauen uns noch die Auftritte von Genesis und Michael Jackson an, aber meine Gedanken hängen noch beim Wettkampf. Ich bin verdammt stolz, dass ich mich durchgequält und alles durchgezogen habe.
»Bist du vollkommen irre geworden?«, fährt Paddy mich dann aber ziemlich sauer im Backstage-Bereich an. »Das war Michael Jackson & Friends, nicht irgendein Konzert!«
»Come on, Paddy«, erwidere ich. »Ich war doch pünktlich auf der Bühne. Was soll der Aufstand jetzt? Jimmy und Patricia durften auch mal wieder schwänzen.«
»That’s why I counted on you«, bricht es plötzlich aus Paddy heraus und ich starre ihn verdutzt an. »I can’t count on them, not always, so I hoped you would be there, just this time… but it’s always your sports first.« Er bricht ab und holt tief Luft. »Wir haben eine Pflicht hier, Mann. Vielleicht solltest du dir darüber wieder mal klar werden.«
Ohne ein weiteres Wort lässt er mich stehen und ich kann ihm nur perplex hinterher starren.

Jimmys Geheimnis IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt