KAPITEL 7

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August 1998

Patricia

Eine Woche ist es nun her, dass ich eine kleine Wohnung in Köln bezogen habe. Ein bisschen ironisch ist es schon, dass ich hier total bescheiden auf 30 qm lebe, während meine Geschwister nicht weit entfernt in einem riesigen Schloss residieren. Aber ich habe mich sehr an meine Freiheiten gewöhnt und kann es mir überhaupt nicht vorstellen, meinem Vater in Gymnich über den Weg zu laufen – seit meiner Flucht nach Irland herrscht zwischen uns absolute Funkstille. Leider ist es kein erfreulicher Grund, der mich zurück nach Deutschland führt und zugegeben vermisse ich Irland auch schon sehr. Es sind – natürlich – wieder diese verdammten Rückenschmerzen, ich bin es mittlerweile wirklich so leid. Vor weniger als zwei Monaten bin ich noch einen Triathlon gelaufen, war körperlich in bester Form und hätte nie daran gedacht Irland bald zu verlassen. Doch die letzten Wochen waren wirklich schlimm, ich habe wieder Schmerzen in solch einer Intensität, dass ich an manchen Tagen trotz Schmerzmittel kaum laufen kann. Also habe ich schweren Herzens entschieden, mich zur Sicherheit zumindest in die Nähe meiner Geschwister zu begeben, falls ich doch auf ihre Hilfe angewiesen sein sollte. Außerdem sind meine alten Fachärzte alle hier, die mich und meinen Rücken schon bestens kennen und mich über all die Jahre begleitet haben.

Während meiner Zeit in Killarney habe ich damit begonnen, wieder regelmäßig die Heilige Messe zu besuchen und in der Bibel zu lesen. Das hatte ich seit unserer Zeit in Frankreich nicht mehr gemacht, als ich noch eine Teenagerin war. Zwar bin ich immer gläubig gewesen, aber ich war mir lange nicht so wirklich sicher, wo genau mein Glaube eigentlich verankert ist. Klar komme ich aus einem katholischen Elternhaus, doch standen bei uns eher die christlichen Werte und Gebote wie die Nächstenliebe im Vordergrund, weniger die Kirchenbesuche. In Irland habe ich also die Gelegenheit genutzt und mich ein bisschen ausprobiert. Ich las verschiedene Schriften aus dem Buddhismus und dem Islam, tauschte mich rege mit Anhängern verschiedener Glaubensrichtungen aus. Schlussendlich hat mich das alles ebenso wenig überzeugt wie das Kartenlegen und mein Ausflug in die esoterische Guru-Szene. Mir wurde eindeutig klar, dass ich mich mit der Bibel und der katholischen Lehre am wohlsten fühle und diese Richtung habe ich seitdem auch weiter vertieft. Besonders jetzt mit den Schmerzen ist mir das Gebet und der Besuch der Messe sehr wichtig. Es ist etwas vertrautes, etwas was ich ohne Probleme aus Irland mit nach Deutschland nehmen konnte und das gibt mir aktuell sehr viel Halt.

Trotzdem vermisse ich Irland sehr. Nicht nur die Menschen und die Landschaft. Seit ich zurück in Deutschland bin, werde ich wieder viel häufiger auf der Straße erkannt und muss mir gut überlegen, wann ich wohin gehen kann. Ein bisschen traurig war ich ja auch darüber Jimmy in Irland „zurückzulassen“, auch wenn ich natürlich weiß, dass er dort bestens aufgehoben ist. Er hat in den letzten Monaten wirklich tolle Fortschritte gemacht. Ich hoffe sehr, dass er es schafft etwas von seiner jetzigen Gelassenheit und Lebensfreude zu behalten, wenn er wieder zu uns und ins Business zurückkehrt. Falls er zurückkehrt, besser gesagt. Bisher hat Jimmy erst wage Andeutungen in diese Richtung gemacht. Aber zumindest weiß ich, dass er die Musik vermisst und so habe ich ihn auch kurzerhand zu unserem Konzert auf der Loreley am 21. August eingeladen. Backstage oder auf der Bühne, ganz wie er will und ich hoffe sehr, dass mein Plan aufgeht und ich ihn damit ein bisschen ködern kann. Zumindest hat er nicht direkt abgelehnt, was ich schon mal als sehr gutes Zeichen werte.

Kathy

Seit ich erfahren habe, dass Patricias wiederkehrenden Rückenschmerzen für ihren überraschenden Umzug nach Köln verantwortlich sind, mache ich mir echt Sorgen um sie. Natürlich freue ich mich meine Schwester in Zukunft wieder häufiger zu sehen, aber sicherlich nicht unter diesen Umständen. Kurz nach ihrem Einzug habe ich sie in ihrer neuen Wohnung das erste Mal besucht und ich musste wirklich zugeben, dass sie auf die Schnelle eine hübsche Wohnung gefunden hat. Ruhige Lage, ein großer Balkon, Küche, Bad und 2 Zimmer. Irgendwie war ich sogar ein wenig neidisch, auch wenn ich das natürlich nie laut zugeben würde. Im Gegensatz zu Barby und Maite habe ich auch gleich verstanden, warum Patricia nicht einfach zu uns nach Gymnich gezogen ist. Mir ist klar, dass sie nicht auf Vater treffen will und nicht bereit ist, alle ihre Freiheiten einfach wieder aufzugeben. 
In letzter Zeit habe ich immer häufiger gemerkt, dass auch ich ab und zu einen gewissen Abstand zur Familie brauche. Vor allem mit Paddy habe ich in den letzten Wochen ständig gestritten, besonders was die musikalische Ausrichtung unseres neuen Albums From their hearts angeht. Mir ist durchaus bewusst, dass viele der jüngeren Geschwister Paddys „Modernisierungsideen“ unterstützen und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis ich mit meinen traditionellen Vorstellungen vollends überstimmt werde. Langsam frage ich mich, ob dies mein letztes Album mit der Familie sein wird, denn ich weiß, dass ich mit einer „modernisierten“ Kelly Family nicht weiter Musik machen könnte. Das passt einfach überhaupt nicht in meine Welt.
Um mich von der angespannten Stimmung innerhalb der Familie und meinen Sorgen abzulenken, versuche ich mich ein wenig in der Dorfgemeinschaft zu integrieren. Sean besucht nun ab und zu den Kindergarten und letzte Woche habe ich auf Einladung des Pfarrers sogar an einer Probe des hiesigen Kirchenchors teilgenommen. Ich genieße besonders die Gelegenheit andere Genre als gewöhnlich zu singen – Gospel und klassische Kirchengesänge anstatt Folk und Pop. Außerdem ist es ein tolles Gefühl, mal als eigenständige Solokünstlerin wahrgenommen und geschätzt zu werden. Vor ein paar Jahren war ich Vaters Vorschlag, ich solle doch mal ein Soloalbum aufnehmen, total abgeneigt, ja, es erschien mir nahezu absurd. Doch inzwischen kann ich es mir tatsächlich sehr gut vorstellen, um mir neben der Family ein zweites Standbein aufzubauen. Vater war begeistert, als ich ihm gestern von meinem Sinneswandel erzählt habe und er hat sofort vorgeschlagen, dass mein erstes Soloalbum ein Best Of meiner bekanntesten Kelly-Family-Songs werden soll. Ein bisschen irritiert war ich davon schon, aber natürlich ist mir auch klar, dass er mir damit den schwierigen Start in die Branche erleichtern will.

Jimmy

21. August 1998

Ich habe lange überlegt, ob ich wirklich zum Konzert auf der Loreley kommen soll. Natürlich vermisse ich Patricia und meine anderen Geschwister, seit dem Tag im Tonstudio nur noch mehr. Es hat wieder richtig Spaß gemacht, Trishas Song aufzunehmen, und ich merke immer deutlicher, wie sehr mir die Musik fehlt. Zwar spiele ich beinahe jeden Tag mit Gwen und den Jungs, aber das ist nicht dasselbe. Mein Tag bestand immer nur aus Musik, ich habe sogar wieder angefangen, einen Song zu schreiben, einfach auch, um Gedanken aufzuschreiben.
Ein paar Tage vorher habe ich mit meinem Therapeuten über einen Besuch backstage beim Loreleykonzert gesprochen. Letztlich hat er die Entscheidung in meine Hände gelegt. Aber meine Familie steht dort auf der Bühne, und es ist auch wichtig, dass der Kontakt nicht abbricht. Was ich ja selbst nicht will. Ich brauchte nur den Abstand, um meine Gesundheit in den Griff zu bekommen. Und hey – es ist die Loreley. Unser Wohnzimmer. Das kann ich mir nicht entgehen lassen. Schließlich bin ich doch heute Vormittag nach Trier geflogen und von dort mit einem Mietwagen zur Loreley gefahren, habe aber niemandem Bescheid gesagt. Ich freue mich schon die ganze Zeit über auf ihre Gesichter.

Patricia stößt einen Schrei aus, als ich backstage auf der Loreley angekommen bin und sie mich sieht. Sie wirft ihre Arme um mich und ich muss lachen. »Jimmy, oh, ich freue mich so! Ich hab nicht gedacht, dass du kommst«, freut sie sich, und ich muss grinsen.
»Ich auch nicht«, erwidere ich, halb belustigt, halb ernst. »Ich war mir bis heute Morgen nicht sicher. But you know… need to check if Adam’s doing his job.«
Ich zwinkere, Patricia knufft mich in die Seite. »It’s so good you’re here, bro«, freut sie sich wieder. »Thanks for coming all the way.«
»It’s the Loreley, you know«, zucke ich die Schultern. »Couldn’t leave you alone here.«
»I know«, schmunzelt sie. »That’s why I invited you.«
Ich kneife kurz die Augen zusammen, erwidere dann aber ihr Lächeln. Ja, es tut gut, wieder hier zu sein. Aber es ist auch gut, dass ich backstage bleibe. Die Rauschzustände, in die ich mich vor den Konzerten zuletzt gestürzt hatte, sind noch zu allgegenwärtig. Nach einer Begrüßungsrunde mit allen, die sich natürlich mächtig freuen, stehe ich auch zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Adam gegenüber. Als ich einen Blick durch den Aufstieg zur Bühne auf die Zuschauerränge werfe, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Die Menschenmenge ist wieder gewaltig. Ich fühle mich immer noch  nicht ganz bereit, wieder voll in den Zirkus einzusteigen, aber es juckt schon ein bisschen in den Fingern. Schließlich habe ich auch jahrelang nichts anderes gemacht, die Bühne ist mein Leben. Ich hatte in den letzten zwei Jahren nur den Fokus verloren.

»Hi, schön dich mal zu sehen, Jimmy«, begrüßt mich Adam mit Handschlag.
»Hast deine Fanbase inzwischen auch dabei, ja?«, frage ich, denn natürlich sind mir die Plakate für ihn aufgefallen, die Fans in die Höhe halten.
»Hab mich ein bisschen um deine gekümmert«, kontert Adam belustigt und ich muss lachen. »Fühlen sich n bisschen einsam, you know.«
»Thanks for taking care«, zwinkere ich zurück und muss dann nach Luft schnappen, als Barby mich stürmisch umarmt.
Ich spüre das Adrenalin durch meine Adern pumpen, als sich meine Geschwister im üblichen Kreis versammeln. Daran hat sich wohl nichts geändert. Dann springen sie nacheinander auf die Bühne, die Musik ertönt zu When tbe boys come into town und ich registriere, dass das Gekreische der Fans nicht nachgelassen hat. Der Bass dröhnt in meinen Ohren, mein Bass, ebenso die Gitarren, der Gesang, und ich erwische mich dabei, wie ich bei Key to my heart mitsinge.

Es fuchst mich schon ein wenig, dass Adam auf meinem Platz steht. Er macht seine Sache gut, aber da gehöre einfach ich hin, und das Fehlen von Nanana oder Thunder kann er erst recht nicht wettmachen. Immerhin singt er meine Songs nicht, ich wäre vermutlich ausgetickt, hätte er das getan.
Es tut mir ein wenig weh, Barby alleine mit Paddy Leave it to the spirits singen zu sehen. Es ist nicht nur die inzwischen so ruhige Art, mit der sie singt, ihr Tanzen fehlt, ihre Leichtigkeit, ihre Freude. All das scheint erloschen, und mir ist sehr klar, was ihr helfen könnte. Aber dafür, die Familie zu verlassen wird sie nicht stark genug sein, so gut kenne ich meine kleine Schwester.

Irgendwann stellen sie I feel love als neuen Song vor, und ich bin überrascht, dass einige Fans schon den Text können. Aber ja, das gab es auch schon immer, wir konnten uns das nie so wirklich erklären. Als Adam bei Peces eine Strophe singt, brechen die Fans in beinahe ebenso lautes Gekreische aus wie bei den anderen, und wieder läuft mir ein Schauer über den Rücken. Auch daran hat sich immer noch nichts geändert, und tatsächlich löst diese Hysterie noch Unbehagen bei mir aus.
Das alles, vor allem die Menschenmenge vor der Bühne, flößt mir noch gehörigen Respekt ein, und ich weiß wirklich nicht, ob oder wann ich bereit sein werde, zurück zu kehren. Denn wenn ich zurückkehre, wird es von null auf hundert sein – eine Eingewöhnungszeit wird es nicht geben. Das ist mir sehr klar.

Jimmys Geheimnis IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt