KAPITEL 11

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Anfang November 1998

Patricia

Gut eine Woche ist nun seit meinem ersten Treffen mit Vater vergangen. Nach dem Betreten seiner Suite ist eigentlich nicht mehr viel passiert. Keine große Aussprache, laute Worte, oder große Emotionen. Stattdessen saßen wir uns auf antiken Stühlen einfach nur gegenüber und schauten uns eine Weile stumm in die Augen. Ich kann gar nicht genau sagen wie lange wir so saßen, denn ich war völlig im Tunnel. Unsere Augen waren Sprache genug und unter seinem offenen, fast liebevollen Blick wechselte mein Gesichtsausdruck schließlich von stur zu sanft. Mein Kopf war komplett leer gefegt, ich lebte nur im Hier und Jetzt. Vermutlich wären wir auch noch ewig so sitzen geblieben, hätte uns die alte Standuhr mit ihrem Stundenschlag nicht abrupt aus der Starre gerissen. Ein wenig überfordert stand ich auf und war mir vollkommen unsicher, wie es weitergehen soll.
»I have to go now«, stotterte ich hastig und machte Anstalten dem Raum zu entfliehen. Doch Vater ließ mich nicht so einfach gehen. »Patricia, please, when can I see you again?«, fragte er bittend, als sei dies die einzige logische Konsequenz. Damit hatte ich nicht gerechnet und etwas unschlüssig drehte ich mich wieder zu ihm um. Ich war bewegt davon, dass er mich wiedersehen wollte und antwortete ohne viel darüber nachzudenken: »Next week, perhaps?«

Mein Vater nickte nur mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht und ich konnte die Freude über meine Antwort in seinen Augen glitzern sehen. Kurz lächelte ich zurück, bevor ich diesmal wirklich seine Suite und auch Gymnich rasch verließ, fast ein wenig zurück nach Köln in meine Wohnung flüchtete. Ich hatte viel zum Nachdenken nach Hause mitgenommen.
Dennoch sind die letzten Tage wie im Flug vergangen und als ich erneut nach Gymnich aufbreche, habe ich das Gefühl, noch weniger vorbereitet zu sein als letzte Woche. Ich merke an dem flauen Gefühl im Magen deutlich meine Aufregung, aber Kneifen ist keine Option, denn ich bin fest entschlossen, meine Zusage einzuhalten. Gestern habe ich mich bei Jay, der auch die Termine meines Vaters managt, um 15 Uhr zum Spazierengehen angekündigt. Und tatsächlich wartet Vater schon am Schlosseingang auf mich, als ich in meinem Auto um fünf vor drei aufs Gelände fahre. Wie ich ihn da stehen sehe, wird mir zum ersten Mal so richtig klar, wie alt er mittlerweile geworden ist. Mühsam stützt er sich mit seiner linken Hand auf einen Stock, die rechte ist seit seinem ersten Schlaganfall fast vollständig gelähmt und hängt nur schlaff neben seinem Körper herunter. Er trägt einen alten Pelzmantel und eine künstliche Leopardenfellmütze, die er schon vor Jahrzehnten irgendwo auf einem Flohmarkt erstanden hat. Als wir dann nach einer kurzen, aber herzlichen Begrüßung schweigend nebeneinander durch den Schlosspark gehen, wird mir außerdem bewusst, dass er mit dem rechten Bein ebenfalls seine Probleme hat. Immer wieder zieht er es hinter sich her. Natürlich passe ich mein Tempo ihm an, gehe langsamer, setze ruhiger meine Schritte in das raschelnde Herbstlaub. Ein gutes, friedliches Gefühl breitet sich in mir aus, je länger wir nebeneinander hergehen und ich spüre, dass es die richtige Entscheidung war, zurückzukommen. Der Knoten scheint geplatzt.

Nach einer Stunde etwa erreichen wir wieder unseren Ausgangspunkt vor dem Schloss und zum Abschied reiche ich meinem Vater die Hand. Meine Hand in seiner ist eisig kalt und kurz muss ich bei der Erinnerung blinzeln, wie er mir als Kind oft besorgt die Hände gewärmt hat, wenn ich bei Straßenkonzerten gefroren habe. Vielleicht denkt Vater an das gleiche, denn er hält meine Hand etwas länger als nötig fest, bevor er mich nach einem nächsten Treffen fragt: »Same time next week?«
»Sure, I’ll be there«, nicke ich und blicke ihm nach, wie er mühsam die Stufen zum Eingang hinaufgeht und dann durch das Tor ins Schlossinnere verschwindet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir in den nächsten Wochen noch häufiger gemeinsam spazieren gehen werden und ich muss gestehen, dass ich mich sogar darauf freue.

Jimmy

Anfang November erscheint unser neues Album From their hearts, und es steigt direkt auf Platz drei in den deutschen Albumcharts ein. Es ist das erste Album, an dem ich kaum mitgewirkt habe, selbst die Instrumentals haben die anderen ohne mich aufgenommen. Please don’t go ist der einzige Song, auf dem ich zu hören bin, weshalb der Song nicht nur für Trisha, sondern auch für mich besonders ist. Auch wenn ich den größtenteils rockigen Sound sehr mag, fühle ich mich daher mit From their hearts logischerweise nicht sehr verbunden. Für Growin‘ Up habe ich wenigstens Leave it to the spirits mit Barby und All along the way mit Kathy eingesungen, und an allen Instrumentals mitgewirkt. Deshalb bin ich auch nicht auf der Promotour dabei, sondern bleibe die meiste Zeit in Gymnich.
Doch ich ertappe mich dabei, wie ich auch ohne das Proben der neuen Songs viele Stunden in unserem neuen Tonstudio verbringe. Hier alleine abzuhängen ist mega uncool. Ich vermisse die Bühne immer mehr, habe des Öfteren in mich hinein gehört, ob ich bereit bin, auch wieder bei Auftritten dabei zu sein.
Was hält mich noch davon ab? Ich kann es selbst nicht sagen. Ein Gespräch mit Vater brachte keine wirkliche Erkenntnis. »It’s up to you, Victor James«, meinte er gestern nachdenklich. »You know in your heart when you’re ready. But in the end we’re meant to be on stage. Everyone of us.«

Jimmys Geheimnis IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt