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Song: Last Christmas - Meghan Trainor

Es ist schon fast lächerlich, wie viele Parallelen es zwischen meinem Leben und dem erfolgreichsten Weihnachtssong aller Zeiten gibt.
Die theatralisch vorgetragenen Lyrics sorgen bei mir mittlerweile für so etwas wie einen Tinnitus.
Der Song läuft seit über zwei Wochen im Radio rauf und runter, dabei ist erst heute der erste Dezember.

"Last Christmas meinen Arsch", zische ich und schlage gegen den Lautstärkeregler. Süße Stille kehrt im Auto ein.
Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn dieser Song nie geschrieben worden wäre.
Meine Welt jedenfalls.

Denn in den nächsten vier Wochen werde ich überall an mein ganz persönliches Last Christmas erinnert werden.
Im Supermarkt, beim Friseur, auf der Arbeit und sogar in meinem verdammten Auto, wenn ich nicht aufpasse.

Ich bohre meine Zähne verbissen in meine Unterlippe und setze den Blinker.
Draußen an der Kreuzung steht eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind an der Hand, Geschlecht unbekannt. Das Kind zieht an der Hand seiner Mutter und für einen Moment sieht es so aus, als ob es der armen Frau gleich die Schulter auskugelt.

Neben dem Kind muss sie sich um drei große Pakete kümmern, die unglücklich unter ihren anderen Arm geklemmt sind, der nicht gerade von ungeahnten Kräften verlängert wird.
Um die Köpfe der beiden schwirren die ersten Schneeflocken der angekündigten Schneefront, die auf D.C. zurollt.
Es könnte perfekt sein. Der perfekte Start in den Dezember, den ich größten Teils in meiner Heimatstadt bei meinen Eltern verbringen werde.
Es könnte... Ist aber nicht.

Weil George Michael vor neununddreißig Jahren meine Zukunft vorhergesehen hat.
Denn vor einem Jahr und 24 Tagen hat mein Freund mit mir Schluss gemacht. Unter dem Weihnachtsbaum.
Gut, nicht wirklich unter dem Weihnachtsbaum. Er hat den Anstand besessen, mich bei Seite zu nehmen und mich im dunklen Flur abzuservieren, während all unsere Freunde im hell erleuchteten Wohnzimmer um den Plastikweihnachtsbaum saßen und unbeeindruckt weiter ihre Geschenke auspackten.

Bis heute kann ich mir nicht erklären, was ihn geritten hat, um sich ausgerechnet an Weihnachten von mir zu trennen.
Vielleicht sah ich beim Auspacken von gefütterten Stoppersocken so angsteinflößend aus, dass er sich genötigt gefühlt hat zu sagen: "Ich kann es nicht mehr aushalten, ich muss es dir jetzt sagen, sonst würde sich dieses Fest der Liebe so unehrlich anfühlen."

Möglicherweise war Dexter ein kleiner, veganer Hipster, der Gefühle und mental health immer ganz großschrieb.
Die berühmte rosarote Brille hat viele seiner Macken wegretuschiert. Aber so ist das eben, wenn man verliebt ist. Und das war ich. Jedenfalls glaubte ich das. So fest, dass ich vor einem Jahr beim Thanksgiving Dinner meiner Familie von unserer siebenmonatigen Beziehung erzählte.

Hinter mir hupt ein Auto und reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich realisiere, dass ich vor einer grünen Ampel stehe, an meinem Daumen kaue und dabei die junge Mutter und ihr kleines Gör anstarre, als wäre ich geradewegs aus einer Irrenanstalt entlaufen.
Vielleicht sollte ich genau dort dieses Weihnachten verbringen.
Mein aktueller Geisteszustand lässt diese Idee gar nicht mal so abwegig erscheinen.

Ich richte meinen Blick geradeaus und drücke das Gas durch. Ich bin sowieso schon zu spät dran.
Die Schneeflocken verdichten sich mit jeder verstreichenden Sekunde. Ihr unruhiger Tanz durch die graue Stadtluft gleicht dem Chaos in meinem Kopf.
Wie immer, wenn ich diesen verfluchten Weihnachtssong gehört habe, befinde ich mich plötzlich ein Jahr in der Vergangenheit.

Ich sehe alles wieder vor mir, so als wäre es gerade erst passiert.
Ich durchlebe meinen größten Fehler erneut: Den Moment, als ich meiner Familie von Dexter erzählt habe.
Daraufhin bestanden meine Eltern nämlich darauf, dass Dexter das Weihnachtsfest mit uns verbringt.
Immerhin habe ich zu meiner Mutter gesagt, dass ich glaube, es könne etwas Ernstes zwischen uns sein.

Not like last Christmas ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt