Zwischen der vorletzten und der letzten Prüfung ließen sie uns kaum Zeit aufzuatmen. Die beiden Prüfungen fanden direkt hintereinander statt, weshalb ich am folgenden Tag relativ früh mein Zimmer verließ. Es war ein schöner Morgen, deutlich kälter und die Luft roch nach Herbst, doch die Sonne schien. So, als würde sie uns allen Glück und Wärme mit auf den Weg für die letzte Prüfung geben. So, als wäre diese letzte Hürde jetzt nur noch ein kleiner Schritt zum Ziel. In gewisser Weise stimmte es ja auch. Wir hatten so viel geschafft und jetzt stand nur noch eine Prüfung aus und dieses Prüfung war wirklich nur noch die Spitze des Eisberges. Ich sog die Luft in meine Lungen und genoss das Gefühl, dass es mir verlieh.
Trotz der vielen Ereignisse des Vortages, die so viel von mir und meinen Körper und meinem Geist gefordert hatten, fühlte ich mich erstaunlich ausgeruht. Ein unumstößliches Lächeln lag auf meinen Lippen. Die Aufregung hatte sich bis in meine Fingerspitzen ausgebreitet und ließ meinen ganzen Körper kribbeln. Die Erfüllung meines Traumes war zum greifen nah. Irgendwie freute ich mich auf die letzte Prüfung. Denn es bedeutete, dass ich es fast geschafft hatte.
Die meisten würden sich heute vermutlich irgendeine einfache Aufgabe herauspicken, denn heute ging es nur darum, unseren ersten richtigen Auftrag auszufüllen. Quasi die Einweihung zum Abenteurer. Je nachdem konnte dies eine schwierige oder eine leichte Aufgabe sein. Und je nachdem, was man wählte, erhielt man auch seine Punkte. Leichte Aufträge brachten weniger Punkte ein, als anspruchsvollere Aufgaben. Und es war nicht verwunderlich, wenn man nach so vielen Prüfungen dann am Ende auf eine eher leichtere Prüfung zurückgriff. Immerhin wollte so kurz vor dem Ziel keiner mehr scheitern.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Teilnehmern hatte ich mir noch nicht überlegt, was für eine Art Aufgabe ich übernehmen wollte. Mein Plan war es, die Aushänge genau anzuschauen und dann spontan etwas auszuwählen. Also machte ich mich auf den Weg zu dem nächsten schwarzen Brett um mir die Anzeigen genau anzusehen. Kaum war ich angekommen, sah ich eine Frau mittleren Alters, die gerade einen neuen Zettel dazu hängte. Sie trug ihre Haare zu einem Dutt zusammengebunden und ihre verdreckte Kleidung wies darauf hin, dass sie immer fleißig war und ihre Arbeit erledigte. Anhand ihrer Kleidungsstücke würde ich tippen, dass sie zu den Menschen gehörte, die eher weniger Geld verdienten, doch genau konnte man das natürlich nicht sagen.
Als sich genauer hinsah, erkannte ich, dass Ihr Gesicht betrübt und von mentalen Schmerzen zerfurcht war. Auf dem Zettel, den sie in der Hand hielt, stand in großen Buchstaben das Wort "VERMISST". Darunter war ein Bild von einem Kind abgebildet. Das Kind sah ziemlich jung aus und hatte die braunen Haare zu zwei Zöpfen gebunden. Sofort zog es mir das Herz zusammen und ich wusste augenblicklich, dass Chiyo diese Mission ohne zu zögern angenommen hätte. Chiyo hatte anderen Menschen immer geholfen und irgendetwas sagte mir, dass sie sehr gut im Umgang mit Kindern gewesen war. Bei der Erinnerung an meine Freundin schmerzte mein Herz nur umso mehr und gleichzeitig musste ich ein wenig lächeln. Die Erinnerung an sie ließ mich wohlig fühlen und für einen Moment war es, als stünde sie direkt neben mir. Meine Finger glitten zu dem göttlichen Auge, welches an meinem Hals hing und ich wusste, dass die junge Kriegerin immer bei mir sein würde, immerhin hatte ich ihr göttliches Auge bekommen.
Noch bevor die Frau den Zettel endgültig festhängen konnte, trat ich neben sie und berührte sie leicht an der Schulter. Erschrocken drehte sie sich zu mir herum. "Ist das da Ihre Tochter?", fragte ich vorsichtig, wollte nicht in ihrer Wunde herum bohren. Langsam nickte sie und ich sah, wie ihr Tränen in die Augen traten. "Sie ist seit zwei Tagen verschwunden. Sie war auf der Guili-Ebene bei den Luhua Teichen mit meinem Mann, ihrem Vater, angeln. Er war nur kurz ein paar Meter weg, um ein Hörnchen zu fangen, was sich in der Nähe der beiden herumgetrieben hatte. Er wollte ihr einfach nur etwas zu Essen besorgen. Doch Als er wieder zurückkehrte, war sie verschwunden. Er hat sie gerufen und überall nachgesehen, aber sie nirgends gefunden", erzählte sie schniefend und ich spürte, wie sich ein Knoten in meinem Magen bildete. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was alles passiert sein könnte. Ein so kleines Mädchen zwei Tage allein da draußen zwischen Monstern? Das konnte ordentlich schief gehen.
"Ich habe so Angst, dass sie irgendwo ertrunken ist, sie kann nicht besonders gut schwimmen", erklärte ihre Mutter und augenblicklich traten Bilder, Erinnerungen und Gefühle in mein Gedächtnis, die mich daran erinnerten, wie ich beinahe ertrunken wäre. Das komische Gefühl in meinem Bauch wurde zu alles einnehmender Übelkeit. Doch ich versuchte mich zu beruhigen, die Mutter war schon besorgt genug. Es kostete mich Überweindung, mich davon abzuhalten, das Mädchen vor meinem Inneren Auge nicht auch ertrinken zu sehen.
"Machen sie sich keine Sorgen, ich finde sie", gab ich mit fester Überzeugung in der Stimme von mir und versuchte dabei meine eigene Angst zu verbergen. Der Ausdruck in dem Gesicht der Frau wurde augenblicklich weicher. "Ihr Name ist Chen Lu, doch jeder nennt sie eigentlich nur Lu", gab sie mir noch mit auf den Weg und ich nickte als Zeichen dafür, dass ich verstanden hatte.
Augenblicklich setzte ich mich in Bewegung und verlor nicht länger Zeit. Das Einzige was ich noch tat war, mir die Vermisstenanzeige in eine meiner Taschen zu stopfen, wer weiß wann man diese mal noch brauchte. Ich teleportierte mich an das Ufer, welches die Luhua-Teiche im Nordosten säumte. Angeln ging man hier immer nur am Ufer, das hieß, dass sie bei dem Fluss, der im Norden die Luhua-Teiche speiste, angeln gewesen sein mussten. Schnell setzte ich mich in Bewegung und verließ die Ruine des Gebäudes, zu der ich mich teleportiert hatte.
Ich lief zunächst das gesamte westliche Ufer der Guili-Ebene ab und versuchte mit jedem Schritt, den ich tat, meine Angst zu verdrängen, die immer mehr in mir hochsprudelte, je länger ich suchte. Ich wollte dieses Mädchen auf keinen Fall tot im Wasser treibend finden. Ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass noch niemand in den letzten Tagen eine Leiche im Wasser gefunden hatte. Denn wäre das der Fall gewesen, dann hätte sich sowas schnell herumgesprochen. Hoffte ich zumindest.
Irgendwann entdeckte ich auf meiner Strecke einen Mann, der ebenfalls angelte. Ich fragte ihn, ob er dieses Mädchen gesehen hätte und zeigte ihm das Bild auf der zerknitterten Anzeige, die ich aus meiner Tasche gezogen hatte. Bedauerlicher Weise verneinte er und sagte, dass er sich nicht erinnern konnte, dieses Mädchen gesehen zu haben. Mit sinkendem Mut lief ich weiter und rief immer wieder ihren Namen, doch auch als ich das unmittelbare Ufer abgelaufen hatte, war ich noch immer nicht fündig geworden. Ich konnte nicht leugnen, dass mir das ordentlich Sorgen bereitete. Das ungute Gefühl in meinem Bauch wurde stärker.
Also erweiterte ich beim zweiten ablaufen meinen Suchkreis. ich suchte auch weiter weg vom Ufer und behielt es bei, immer wieder Lu's Namen zu rufen. Die Guili-Ebene bot nicht viele Möglichkeiten zum Verstecken, denn es war immerhin nur eine flache Ebene. Also achtete ich auf Körper, die eventuell auf dem Untergrund aus Stein und Gras lagen. Ich wollte nicht, dass diesem Mädchen etwas passiert war, aber dennoch musste ich darauf vorbereitet sein. Ich musste mich auf das Schlimmste gefasst machen.
Der Gedanke, dass sie hier irgendwo verletzt oder gar tot und von Monstern zerfleischt liegen könnte, bereitete mir Kopfschmerzen. Ich wollte der Mutter ihr Kind nicht in einem solchen zustand wiederbringen, dass würde sie ebenfalls umbringen und sie würde sich für den Rest ihres Leben Vorwürfe machen. Das wollte ich auf jeden Fall vermeiden.
Fieberhaft dachte ich darüber nach, wo sich ein so junges Kind versteckt haben könnte, doch ich war erstaunlich einfallslos was das anging. Ich war mir sicher, dass Kinder auch auf einer flachen Ebene viele Möglichkeiten zum Verstecken finden würden. Aber Erwachsene? Erwachsene waren erstaunlich begrenzt, was diese kindlich Kreativität anging. Man dachte nur bis zum eigenen begrenzten Horizont, nicht darüber hinaus.
Also musste ich mich wohl damit begnügen, einfach meine Augen offen zu halten. Auch wenn ich auf den ersten Blick nichts erkennen konnte, weigerte ich mich aufzugeben.
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Valor // Genshin Impact Albedo FF
FanficAyumi's größter Wunsch ist es, eine Abenteurerin im Namen Teyvats zu werden - auch ohne göttliches Auge. Doch um ein Abenteurer zu werden, muss man viele Prüfungen bestehen. Auf ihrem Weg zum Aufstieg trifft die junge Kämpferin auf Albedo, ein Mann...