43 - Rückblende 14.08. Lyann

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Hamburg 14.08.2022 Lyann

Alles fühlte sich dumpf an. Als sie heute Morgen aufgewacht war, hatten ihre Augen zu allerst nach Sarah gesucht wie jeden Morgen seit ihrer ersten Nacht zusammen.
Doch ihre Seite war leer gewesen.
Sofort hatte sie gewusst, dass Sarah gegangen war.
Lyann hatte die Tränen nicht aufhalten können, sie waren einfach so aus ihr herausgebrochen. 
Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit dann doch aufgestanden und in die Küche gelaufen war, hatte sie den Brief auf dem Esstisch entdeckt.
Jetzt saß sie einfach am Tisch, der Briefumschlag mit der zierlichen Handschrift lag vor ihr und sie konnte ihn nur ansehen.
Lyann freute sich natürlich, dass Sarah ihr noch abschließend eine persönliche Nachricht hinterlassen hatte, doch sie traute sich nicht diese zu lesen.
Plötzlich vibrierte ihr Smartphone, welches sie gestern auf dem Küchentresen abgelegt und dort vergessen hatte.
Der erste Gedanke war natürlich Sarah, aber auch ohne auf das Display zu schauen, wusste sie, dass sie es niemals sein konnte.
Lyann fiel ihre Bitte von gestern ein. Sie sollte ihre Handynummer löschen.
Doch dazu war die junge Holländerin noch nicht bereit.
Ihr ganzer Körper schmerzte.
Sie hatte gewusst, dass es weh tun würde.
Doch die Realität war noch tausendmal schlimmer.
Sie vermisste Sarah schon jetzt, dabei war sie wahrscheinlich erst seit ein paar Stunden fort, wenn überhaupt.
Lyann nahm den Brief in die Hand und roch an ihm.
Eine Welle der Sehnsucht überrollte sie.
Das Papier roch nach ihrem Parfum.
Es roch nach Sommer und Urlaub.
Es roch nach Sarah.
Wieder vibrierte ihr Smartphone.
Schwerfällig stand sie auf, ging zum Tresen und sah auf das Display.
Jamie.
"Hi" sagte Lyann kaum hörbar.
"Hi Looney" ihre Stimme klang weich.
Sofort fing Lyann an zu schluchzen, sie konnte kein einziges Wort sagen.
"Ich komme zu dir" sagte Jamie knapp und legte auf.

Lyann nahm den Brief und setzte sich damit auf die Couch. Sie starrte ihn einfach nur an.
Mit den Fingern fuhr sie die zarte Handschrift nach. Sie passte zu Sarah. "Oh Gott, ich vermisse sie so sehr" schoss es ihr durch den Kopf.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
Doch Lyann konnte nicht aufstehen, ihre Beine fühlten sich an als wären sie mit Blei gefüllt.
"Looney, mach auf. Ich bins" rief Jamie und hämmerte gegen die Tür.
Wie in Trance erhob sie sich und lief zur Tür. 
Sie konnte Jamie durch das Holz atmen hören.
Als sie die Tür öffnete stand ihre Freundin mit ihrem Rucksack in der Hand vor ihr.
Lyann schaffte es nicht, sie anzusehen.
Jamie trat vor sie und blieb erstmal stehen.
Dann nahm sie Lyanns Kopf in die Hände und küsste ihre Haare.
In dem Moment fing sie wieder an zu weinen. Die Tränen strömten nur so aus ihr heraus.

"Willst du ihn nicht lesen?" fragte Jamie und ihre Augen starrten auf den Brief in Lyanns Hand.
"Ich kann nicht" flüsterte sie.
"Soll ich ihn dir vorlesen?" die Stimme der Blondine klang so liebevoll.
Gerne hätte Lyann ihr geantwortet, doch sie konnte nur nicken.
Jamie nahm ihr den Brief aus der Hand und öffnete ihn.
Lyann hatte ihre Augen geschlossen und in den Nacken gelegt.

Sie konnte hören, dass Jamie kurz die Luft einsog.
Dann begann sie zu vorzulesen.

"Meine schöne Lyann,

ich sitze gerade am Schreibtisch in Sunnys Gästezimmer und versuche seit gefühlt einer halben Stunde meine Gedanken zu sortieren.
Es gibt so vieles was ich dir gerne sagen würde, aber ich traue mich nicht die Worte aufzuschreiben. Ich weiß nicht, wie der Abend heute enden wird, deshalb wollte ich dich hiermit ein wenig an meiner Gefühlswelt teilhaben lassen.
Für den Fall, dass du mich später wegschickst. Denn wenn das passieren sollte, werde ich kein einziges Wort mehr sagen können.
Ich kann mir nicht vorstellen, heute Nacht nicht mit dir zu verbringen. Alleine der Gedanke schnürt mir die Kehle zu. 
Niemals hätte ich gedacht, dass mir so etwas hätte passieren können.
Ich fühle mich so furchtbar, weil ich dich in diese Lage gebracht habe. Weil ich zugelassen habe, dass du dich auf meine Bedingungen einlässt.
Immer wenn ich meine Augen schließe, sehe ich dein Gesicht. Und obwohl der Kuss im Stadion sich einfach unbeschreiblich schön angefühlt hat, war es nicht richtig, dich so vor aller Welt zu küssen.
Aber es ist einfach passiert, ich konnte mich nicht dagegen wehren.
Meine Gefühle für dich haben mich in diesem Moment einfach übermannt.
Ich kann mir nicht vorstellen, dich nach heute nie mehr wieder zu sehen. Es bricht mir das Herz, aber es ist die einzig richtige Entscheidung.
Egal, wie sehr ich auch leiden werde, ich bereue nicht eine einzige Sekunde, die ich mit dir zusammen verbracht habe.
Ich bin sehr dankbar dir begegnet zu sein und ich vermisse dich schon jetzt.
In Gedanken fahre ich gerade deine süßen Sommersprossen nach.
Ich wünsche Dir alles Glück der Welt und noch mehr.

Ich werde dich niemals vergessen
In Liebe
Sarah

Jamie musste beim Lesen einige Male schlucken und als sie fertig war, ließ sie den Brief wie in Zeitlupe nach unten sinken.
Lyann hatte ihre Position nicht verändert, ihre Augen waren noch immer geschlossen.
Die Tränen liefen ihr seitlich über das Gesicht.
Wieder schluckte Jamie.
"Es tut mir so leid, Looney" flüsterte sie.

"Hast du Hunger? Sollen wir etwas zu essen bestellen? Dasebio? " fragte Jamie vorsichtig.
Mittlerweile lief der Fernseher, Lyann hatte sich etwas ablenken wollen.
Ihr Gesicht war rot und geschwollen vom Weinen.
Sie fühlte sich leer.
Jamie hatte einige Dinge mitgebracht um ihre Freundin abzulenken - gefühlt tonnenweise Chips und Süßigkeiten und eine Flasche Wodka, deshalb der große Rucksack.
Doch Lyann hatte bisher weder etwas gegessen noch getrunken. Noch nicht einmal Kaffee.
Daran konnte Jamie sehen, wie schlecht es ihrer Freundin ging. Die sonst so fröhliche und freche Lyann so dermaßen lethargisch zu sehen, tat Jamie in der Seele weh.
"Looney, hörst du mich? Wollen wir essen bestellen? Sie wiederholte ihre Frage erneut, doch die jüngere Frau starrte einfach nur ins Leere.
"Ich bestelle jetzt einfach mal all deine Lieblingsspeisen, dann musst du die Woche auch nicht mehr kochen." Die Blondine stand auf und ging kurz ins Nebenzimmer um in Ruhe zu telefonieren.
Als sie zurückkam, saß Lyann immer noch unverändert da.
Jamie trat von hinten an die Couch küsste ihre Freundin liebevoll auf den Kopf.

Auf dem Fernseher vor ihr flimmerte ein Film, den Jamie ausgesucht hatte. Die Blondine hatte sich in eine Decke eingewickelt und sich in die Couchecke gekuschelt. In der Hand hielt sie eine Tüte Chips.
Lyann hatte zwar immer noch keinen Appetit gehabt, doch Jamie hatte darauf bestanden, dass sie wenigstens eine halbe Portion Pasta essen musste.
Normalerweise liebte sie das Essen von ihrem Lieblingsitaliener, aber heute schmeckte alles nach Pappe.
Immer noch fühlte sie sich komplett leer, nur einen stechenden Schmerz konnte sie in ihrer Brust spüren.
Sie fühlte sich wie in einer Blase.
Lyann blickte zu Jamie, deren Blick auf den TV gerichtet war. Sie war froh nicht alleine zu sein, obwohl sie bisher nur eine Handvoll Wörter mit ihr geredet hatte.
Alleine der Gedanke, dass sie morgen zum Training gehen musste, ließ ihren Magen krampfen. Am liebsten würde sie sich hier zu Hause einsperren, die Rollläden runterlassen und einfach nur da liegen.
Sie versuchte, die immer wieder aufkommenden Erinnerungen an Sarah zu verdrängen.
Sie fühlte sich zu kraftlos um wieder zu weinen.
Heute Nacht würde sie alleine in ihrem Bett schlafen müssen, davor hatte Lyann schon jetzt Angst. Jamie hatte zwar angeboten, bei ihr zu bleiben, aber sie wollte nicht, dass Jamie Sarahs Geruch aus ihren Laken vertrieb.

Der ganze Tag hatte sich wie Kaugummi gezogen. Lyann war zwar todmüde, aber schlafen konnte nicht. Jedes Mal wenn sie ihre Augen schloss, sah sie Sarahs wilde Locken und ihre schönen Augen vor sich. Es fühlte sich fast so an als ob das alles nur ein schöner Traum gewesen war.
Doch der Geruch ihrer Laken führte ihr vor Augen dass das alles wirklich so passiert sein musste.
Sie sehnte sich so sehr nach Sarah.
Ihr Brief hatte sie sehr berührt, obwohl sie die meisten Worte schon kannte. 
Sarah hatte ihn für den Fall geschrieben, falls Lyann sie weggeschickt hätte.ü
Als hätte sie das jemals gekonnt.
Jamie hatte darauf bestanden zu bleiben, sie schlief nun auf der Couch im Wohnzimmer.
Es war mittlerweile 01:24 Uhr.

Den ersten Tag ohne Sarah hatte Lynn überstanden.
Nach einer Weile glitt sie in einen traumlosen Schlaf.

7 Tage (girlxgirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt