46 - 3.10.22 Lyann Trainingscamp

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Den Haag, 3.10. Nationalmannschaftscamp

Der Fernseher in ihrem Hotelzimmer lief und zeigte eine schwachsinnige TV-Serie.
Das holländische Fernsehen war dermaßen schlecht, aber Lyann brauchte die Geräusche zum einschlafen heute. Klarissa, ihre Zimmergenossin bei der Nationalmannschaft, schlief bereits. Ihr Schnarchen war zwar leise, aber trotzdem nervte es Lyann. 
In drei Tagen war das große Spiel gegen Frankreich, doch sie konnte sich einfach nicht darauf freuen. 
Aktuell konnte sie eigentlich fast kaum noch etwas anderes fühlen als Leere und Sehnsucht.
Lyann hatte nur noch wenig Appetit - alles schmeckte nach Nichts. Leider hatte sie bereits fünf kg abgenommen, was dem Hamburger Trainerteam eher weniger gefiel. Sie merkte auch, dass sie nicht mehr so kraftvoll wie noch vor ein paar Wochen war.
Lyann schlief schlecht und auch der Fussball machte ihr nur noch wenig Freude. Sie kannte dieses dumpfe Gefühl, damals nach der Trennung von Celine war es ihr auch so gegangen.
Doch dieses Mal war es deutlich schlimmer.
Jamie und die anderen versuchten wirklich ihr Bestes um sie zum Lachen zu bringen und ab und an tat sie das sogar, doch sie fühlte sich trotzdem wie betäubt.
In einer Woche war ihr 22. Geburtstag.
Alle fragten sie, was sie sich denn nur wünsche, doch das einzige was sie wirklich wollte, konnte ihr niemand schenken.
Am Anfang hatte sie sich immer vor dem Einschlafen Sarahs Fotos angesehen.
Sie hatten einige Bilder zusammen gemacht, es war eine schöne Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit. Sie sahen so glücklich und strahlend aus, dass Lyann selbst unter den aktuellen Umständen immer lächeln musste. Jamie meinte, es wäre besser, wenn sie die Fotos einfach löschen würde, doch das hatte sie nicht übers Herz gebracht.
Es war schon schrecklich genug gewesen, ihre Nummer aus ihren Kontakten zu löschen.
So sehr sie die Bilder von ihr und Sarah liebte, sie machten sie auch gleichzeitig wahnsinnig traurig.
Nie wieder würde sie durch ihre Locken streicheln oder ihr weichen Lippen küssen dürfen.
Der Schmerz, den sie bei diesen Gedanken jedesmal fühlte, war einfach unerträglich. 
Seit vier Tagen jetzt hatte Lyann sich nun keine Fotos mehr angesehen, sie musste endlich damit aufhören sich selbst zu quälen.
Die Länderspielpause kam ihr gerade recht, es war gut mal eine Weile aus Hamburg rauszukommen, denn alles erinnerte sie an Sarah.
Bis auf Danielle und Jamie wussten die anderen Teamkolleginnen nicht, was mit ihr los war.
Doch natürlich war jedem aufgefallen, dass es Lyann gerade nicht gut ging. Wahrscheinlich hatte Jamie die meisten kurz aufgeklärt, denn die anderen stellten keine Fragen zu ihrem Zustand.
Auch Klarissa nicht.
Die beiden mochten sich gerne, doch sie waren nicht privat befreundet.
Ihr hätte Lyann sowieso eher nichts von Sarah erzählt, allgemein wollte sie mit niemandem darüber reden, auch nicht mit Jamie. Es tat ihr einfach zu weh.
Selbst Wim kannte nur die Eckdaten, nicht einmal ihm wollte sich Lyann anvertrauen.
Wieder einmal lag sie bis zwei Uhr nachts wach.

Die erste Tage im Camp liefen sportlich eher so bescheiden, aber emotional schien es es ihr langsam besser zu gehen. Gestern hatte Lyann zum ersten Mal seit Wochen wieder richtig Hunger gehabt, sie hatte sogar ganze zwei Teller Pasta verdrückt. Sie war gestern auch bereits gegen 23 Uhr eingeschlafen - das war definitiv neuer Rekord.
Das erste Training am heutigen Tag startete super für Lyann. Sie hatte einen richtig guten Lauf, ihr gelang jede Flanke und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich etwas leichter. 
"Heute läuft es bei dir, oder?" Jamie knuffte ihr in die Seite.
"Ja, irgendwie schon. Ich fühle mich gerade ganz gut. Mittlerweile habe ich sogar etwas Hunger, zum Frühstück hatte ich nur eine Banane und ein bisschen Joghurt."
Jamie strahlte über das ganze Gesicht.
"Super, freut mich. Du hast vorhin auch mal wieder richtig gelacht, so richtig echt" sagte sie vorsichtig.
"Vielleicht war das der erste Schritt zurück zur Normalität. Irgendwann muss ich über sie hinwegkommen oder?" Lyann lächelte schief.
"Ach Looney, nimm dir soviel Zeit wie du brauchst. Du weißt, ich bin immer für dich da.
Freust du dich schon auf das Spiel morgen?" wollte Jamie wissen. 
"Danke, dass du dich um mich gekümmert hast.
Das werde ich dir echt nicht vergessen. 
Klar freue ich mich auf morgen, Frankreich ist eine Topmannschaft. Und wir beide stehen schließlich in der Startelf, also gewinnen wir oder was?"
Lyann grinste frech.
Jamie grinste ebenfalls und flüsterte ganz leise
"Willkommen zurück Looney".

"Lyann, feierst du eigentlich deinen 22. Geburtstag und wenn ja, wo ist bitte meine Einladung?" rief Veerle und warf ihr den Ball zu. Doch ihre Mitspielerin konnte nicht wirklich gut zielen und der Ball traf Lyann direkt am Kopf. 
"Eyyy, spinnst du?" lachte diese laut auf.
Zum Glück hatte die andere nicht fest geworfen sonst hätte sie definitiv heute Abend Kopfschmerzen gehabt.
"Gut, dass du Fussball spielst und nicht Handball" Lyann ärgerte sie ein bisschen.
"Haha. Lenk nicht ab - was ist jetzt mit deinem Geburtstag.?" fragte die Ältere.
Lyann überlegte kurz.
"Ich bin an meinem Geburtstag in Hamburg, also feier ich mit meinem Team dort. Aber übernächstes Wochenende bin ich zu Hause in Utrecht, dann werde ich mit meiner Familie und ein paar Freunden und natürlich Wim feiern. Aber keine große Party, ist ja kein runder Geburtstag."
"Also keine Einladung?" Veerle lachte.
"Sorry mate" Lyann grinste.

Obwohl der Tag super gelaufen war und sie sogar kurz mal nicht an Sarah gedacht hatte, kamen jetzt im Bett wieder die Erinnerungen zurück.
Die Sehnsucht übermannte sie wie so oft und am liebsten hätte sie sich wie ein Embryo zusammengerollt. Klarissa war noch wach und tippte wild auf dem Display ihres Smartphones herum.
"Looney, schläfst du schon?" fragte sie plötzlich.
"Nein, ich bin noch wach. Wieso fragst du?" Gab Lyann zurück.
"Ach, nur so. Du schläfst nicht besonders gut im Moment oder? Du wälzt dich viel herum und siehst allgemein ziemlich erschöpft aus.
Ich weiß, es geht mich nichts an, aber wenn du mal quatschen willst, ich bin da.
Wir können einfach das Licht ausmachen und du redest drauf los. Fast so als ob du Selbstgespräche führen würdest oder wie früher im Landschulheim oder im Junioren-Trainingscamp" Klarissa kicherte.
Lyann war total erstaunt über das Angebot. Sie überlegte kurz und wollte dann wissen
"Hat Jamie dir etwas erzählt? Oder Danielle?"
"Nein, nicht wirklich. Ich habe nur ein Gespräch mitbekommen, da ging es um dich. Ich glaube alle haben sich ziemlich erschrocken, als du hier im Trainingslager angekommen bist. Du bist schmal geworden und deine Augen waren so traurig. Außerdem hast du keine dummen Sprüche gemacht und auch gar nicht gelacht.
So kennen wir dich eben nicht. Heute hast du zum ersten Mal seit wir im Camp sind richtig von Herzen gelacht. Ist uns allen aufgefallen.
Du musst mir nichts erzählen, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass reden manchmal hilft.
Damals als Joost mit mir Schluss gemacht hat, wollte ich erst auch nicht darüber reden, ich habe alles in mich reingefressen bis ich irgendwann das Gefühl hatte, dass mich die Last und der Kummer erdrücken. Als ich dann endlich über meine Gefühle sprechen konnte, war das wie eine Befreiung für mich.
Ich wollte nur klarmachen, dass ich für dich da bin" Klarissa sprach ganz ruhig.
"Danke fürs Angebot, aber ich glaube, ich möchte einfach nur schlafen. Ich bin total erledigt" antwortete Lyann ruhig.
"Alles klar. Ich mache dann mal das Licht aus. Gute Nacht Looney" mit diesen Worten drückte ihre Mitspielerin den Lichtschalter aus.
"Nacht" sagte sie.

Doch Lyann konnte nicht einschlafen, jedes Mal musste sie an Sarah denken, sobald sie ihre Augen schloss.
Im Hotelzimmer war es stockfinster.
Klarissas Worte hallten in ihren Ohren.
"Vielleicht sollte ich ihr Angebot einfach annehmen?" dachte sie
Dann fang sie stockend an zu erzählen und obwohl sie Klarissa nicht sehen konnte, wusste sie, dass sie zuhörte.
Und der Druck auf ihrer Brust nahm mit jedem Wort etwas ab.

7 Tage (girlxgirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt