Kapitel 1

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Wut. Sie ist seit einiger Zeit mein treuer Begleiter, klammert sich an mein Herz wie ein bösartiger Tumor und lässt die Welt etwas härter, etwas kantiger, etwas gefährlicher aussehen. Es ist wie ein permanenter Filter über meiner Sicht, der den verpassten Schulbus am Morgen wie eine Verschwörung gegen mich wirken lässt und eine verpatzte Klausur, als könne ich gar nichts mehr auf die Reihe bekommen.

Dabei weiß ich gar nicht auf wen ich wütend bin. Auf mich, weil ich es nicht schaffe, hinter mir zu lassen, was passiert ist? Auf meine Eltern, obwohl sie unter dem ganzen wohl am meisten leiden? Oder auf die gesamte Menschheit, weil die Nachrichten Tag für Tag beweisen, dass wir diese Welt nicht verdient haben?

Poetische Fragen für eine Mittagspause in der Schule. Und die Nudeln auf meinem Teller sind es, die die gesamte Wut abbekommen, die sich in mir über den Tag angestaut hat. Klackend stoßen die Zacken meiner Gabel immer wieder auf den Teller, als ich die Nudeln aufspieße und sie dann doch nicht esse. Ich stochere nicht in meinem Essen herum, ich ersteche es.

„Wow, May die Nudeln haben dir nichts getan." Beschwichtigend legt Eva eine Hand über meine und hält mich davon ab, als nächstes die Mini-Möhren zu erdolchen. Mit einem frustrierten Seufzen lasse ich die Gabel fallen und lehne mich in meinem Stuhl zurück.

„Sorry. Habe anscheinend keinen Appetit."

Eva zieht eine Augenbraue hoch und muss sich sichtlich ein Lächeln verkneifen, als sie deutlich sanfter als ich die Überbleibsel einer Fussili aufpiekst und sie mir anklagend hinhält.

„Sicher? Oder sind die Nudeln nachts bei dir eingebrochen und haben deine Lieblingspflanze umgebracht?"

Sofort schießt mir das Bild meiner Herzblattblume – Anthurium clarinervium – durch den Kopf, wie sie unter einem Haufen Nudeln begraben ist und ihr neues Blättchen sich hilfesuchend nach oben reckt. Das lässt meine Mundwinkel zucken und zusammen mit dem dunklen Knoten in meinem Bauch löse ich auch meine verschränkten Arme.

„Also wenn die Übeltäter nicht während der Doppelstunde Geschichte bei mir zu Hause eingebrochen sind, sollte es meinen Pflanzen gut gehen."

Eva grinst mich an, während sie weitere Nudeln aufspießt und sie mir dann unter die Nase hält. „Gut, dann öffne jetzt wie eine brave MayMay den Mund und erweise diesen Nudeln die letzte Ehre."

Zweifelnd schaue ich meine beste Freundin an, doch ich kenne diesen erwartungsvollen starrsinnigen Blick viel zu gut, um zu wissen, dass sie nicht nachgeben wird, bis ich die Gabel gegessen habe. Also öffne ich augenverdrehend den Mund und bekomme säuglingsgerecht mit Flugzeuggeräuschen mein Essen angereicht. Dass die halbe Schule uns anstarrt, macht Eva dabei nichts aus. Mich im Gegensatz bewegt es dazu ihr schnell die Gabel aus der Hand zu nehmen, bevor sie sich die nächsten Nudeln schnappen kann, und das lieber meinem Alter angemessen selbst zu machen.

Das siegreiche Lächeln auf Evas Lippen macht dabei nur zu deutlich, dass sie genau erreicht hat, was sie wollte. Doch auch wenn ich ihr einen genervten Blick schenke, muss ich beim Kauen ein Grinsen unterdrücken. Weil Eva durchgeknallt ist und ich genau das an ihr liebe. Und weil sie es geschafft hat, die Wut in meiner Brust für eine zeitlang zu verbannen.

„Hat Eva dich gerade gefüttert?" Gegenüber von uns wird ein Tablett auf den Tisch fallen gelassen und eine Sekunde später setzt sich Allie schwungvoll hin. Sie mustert uns mit diesem Blick, den wir seit der dritten Klasse regelmäßig kassieren, und so viel aussagt wie „ich habe euch lieb, aber ihr habt sie nicht mehr alle". Übelnehmen kann ich es ihr nicht. Also winke ich einfach ab, in der Hoffnung, dass das Thema damit gegessen ist. Aber da habe ich nicht mit David, Max und Rico gerechnet, die sich genau diesen Moment raussuchen, um sich ebenfalls zu uns zu gesellen.

F*ck Growing upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt