„May!"
Mit einem Seufzen höre ich Mom von unten rufen und werfe einen letzten Blick in meinen Spiegel. Ich sehe perfekt aus, genau so wie ich es mir immer erträumt habe. Meine Haare sind elegant nach oben gesteckt und das bodenlange Kleid funkelt im Licht durch die vielen kleinen Steinchen, die darauf gestickt sind. Und trotzdem fühle ich mich absolut nicht bereit für das hier. Für den Abiball. Für den Schulabschluss.
Meine Brust zieht sich zusammen, wie jedes Mal, wenn mir die Endgültigkeit dieses Schrittes bewusst wird. Nie wieder Schule. Nie wieder nervige Lehrer. Nie wieder meine Freunde, die ich jeden Tag sehe.
Ich wünschte Noah wäre zumindest hier, um meine zitternde Hand zu halten, während ich mir die kleine Handtasche von meinem Bett schnappe und das wichtigste hineinstopfe. Aber er steckt mitten in seiner Klausurenphase und vergräbt sich wahrscheinlich genau in diesem Moment Kilometer von hier entfernt in staubigen Lehrbüchern. Ich bin ihm nicht böse deswegen. Aber ich vermisse ihn so sehr. Mit den Abiturprüfungen und seinen Vorlesungen haben wir uns den letzten Monat viel zu selten gesehen und ich vermisse seine ruhige Anwesenheit, wenn ich mal wieder wegen etwas emotional bin. Oder seine Art mich von allem ablenken zu können, einfach in dem er mich an seine Brust zieht. Eigentlich vermisse ich alles an ihm.
Eine Fernbeziehung zu führen ist herausfordernd. Wir telefonieren fast jeden Tag, teilen miteinander Kleinigkeiten aus dem Alltag. Aber es ist trotzdem nicht damit vergleichbar in Person für den anderen da zu sein. Sich berühren zu können, das Gesicht des anderen zu sehen. Und es wird noch schwerer, wenn ich ebenfalls nicht mehr zu Hause wohne. Wenn wir zwischen drei Städten pendeln müssen, um einander und unsere Familien zu sehen. Nicht, dass ich schon wüsste, wohin es geht. Meine Zukunft kommt mir immer noch so schleierhaft vor, wie vor einem halben Jahr.
Die Zähne in meiner Unterlippe vergraben, um den Tränen Einhalt zu gebieten, die mich seit der letzten Abschlussprüfung ständig einfach überfallen, tippe ich eine kurze Nachricht an Noah, bevor ich mich mit einem tiefen Atemzug zusammenreiße. Heute ist ein Tag zum Feiern. Nicht um eine Heulsuse zu sein. Selbst Dad ist hier. Er kam vorhin an, als Mom mir noch mit den Haaren geholfen hat, und sah aus wie der stolzeste Vater der Welt.
Inzwischen schaut er öfter hier vorbei. Manchmal nur um kurz mit Tim und mir zu reden, wenn wir länger nichts mehr miteinander unternommen haben. Er beteiligt sich an unserem Leben, hat mir bei Mathe unter die Arme gegriffen, wenn Noah es aus der Entfernung nicht konnte, und ist Teil der wichtigen Ereignisse. Meinem achtzehnten Geburtstag, Weihnachten, meine Prüfungen. Es ist nicht so, als wären Mom und Dad wieder beste Freunde oder würden sich stets freuen den anderen zu sehen. Aber irgendwie haben sie es geschafft, zu einer stillen Übereinkunft zu kommen, dass wenn es um Tim und mich geht, ihre Uneinigkeiten ohne Bedeutung sind. Und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Es hat mir ermöglicht mit Dad nochmal von vorne anzufangen. Um herauszufinden, wie er mein Vater sein kann, ohne zugleich der Lebenspartner meiner Mutter zu sein.
Ich freue mich, dass er hier ist. Genauso, wie ich mich freue, dass Tim einen Abend seinen Computer zurücklässt, um mit uns gemeinsam zu feiern. Und darauf versuche ich mich zu konzentrieren, während ich in meinen hohen Schuhen die Treppen herabsteige.
Es ist mein Moment. Die junge, schöne Frau, die zu ihrem Abschlussball herunterschreitet. Die Familie wartet bereits am Treppenabsatz auf sie. Der Mutter schimmern Tränen in den Augen, der Vater kann nicht fassen, wo sein kleines Mädchen hin ist. So habe ich es mir immer vorgestellt. Doch anstatt einen Disney-reifen Auftritt hinzulegen, bin ich es, die mitten im Schritt erstarrt und nicht glauben kann, was sie sieht.
Blaue Augen strahlen mich voller Stolz und Bewunderung an. Braune Locken sind mit wahrscheinlich Unmengen an Haarspray gebändigt worden. Eine hellblaue Krawatte schmiegt sich an eine muskulöse Brust, die durch das weiße Hemd und den Sakko noch mehr betont wird.
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F*ck Growing up
Teen FictionMay will nichts lieber, als ihr letztes Schuljahr richtig mit ihren Freunden zu genießen. Das gestaltet sich allerdings schwer, seitdem sich ihre Eltern haben scheiden lassen, ihre Mutter Schicht arbeitet und sie im Haushalt mithelfen muss. Da hilft...