Kapitel 11

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Obwohl ich versuche, früh schlafen zu gehen, in der Hoffnung, dass morgen alles wieder besser aussieht, wälze ich mich nur unruhig im Bett hin und her. Ich schaffe es einfach nicht gegen den Druck in meiner Brust anzuatmen und schließlich gebe ich nach einigen Stunden auf. Ich fühle mich so unruhig, dass ich am liebsten für einen Spaziergag rausgegangen wäre. Aber es ist mitten in der Nacht und Mom würde einen Anfall bekommen, wenn sie mitbekommt, wie ich mich um diese Uhrzeit rausschleiche. Also steige ich mit einem Hoodie über meinem Pyjama und mit der E-Zigarette bewaffnet auf das Dach hinaus und setze mich ohne Polster auf die Ziegel. Die Kanten, die sich in meinen Rücken bohren fühlen sich gut an. Sie übertönen den Schmerz in meinem Inneren, während ich einige Züge nehme.

Mein Blick gleitet nach oben und mit tiefen Atemzügen versuche ich die Ruhe zurückzugewinnen, die mich das letzte Mal hier oben ergriffen hat. Aber dieses Mal zieht mich der Nachthimmel nicht in seinen Bann. Die Sterne sind von Wolken verhangen, welche sich über mir auftürmen, wie die Sorgen in meinem Kopf. Ich wünschte, ich könnte meine Gedanken mit einem Knopfdruck abstellen. Einfach die letzten Stunden verdrängen und weiter machen. Aber so hat das bei mir noch nie funktioniert. Stattdessen rollen sie über mich, wie eine Lawine, die mich unter sich begräbt.

Die verzögerte Unterhaltszahlung ist seit fast einer Woche das einzige, was ich von Dad gehört habe. Nach den ersten Monaten, die er kaum dass er hier ausgezogen war im Ausland verbracht hat, hat er es irgendwann aufgegeben, mir privat zu schreiben. Jetzt gibt es nur noch alle paar Wochen ein Foto im gemeinsamen Chat mit Tim, Dad und mir oder Moms Berichte über alles, was Dad falsch macht. Aber was hat er auch gedacht? Dass ich mich freue, wenn er Urlaubsbilder schickt, für die er uns hinter sich gelassen hat? Dass ich ihm einfach verzeihe?

Das alles ist so verstrickt und unter all den Gründen, weshalb ich Dad hassen will, vermisse ich ihn doch vor allem.

Ein kleiner gequälter Laut entkommt meiner Kehle.

„May?"

Erschrocken fahre ich zusammen, als mein Name aus der Dunkelheit zu mir rüber schwebt. Für einen Moment schaue ich mich orientierungslos um, bis eine Bewegung im Nachbarhaus mir den richtigen Hinweis gibt. Shit. Hektisch wische ich mir über die Wange, auf die sich eine einzelne Träne verirrt hat. Dann steht Noah auch schon am Fenster und schaut aus seinem neuen Zimmer zu mir hinaus.

„Was machst du um die Uhrzeit hier draußen?" Verschlafen streckt sich Noah, während er auf den Balkon tritt. Er hat nur eine tiefsitzende Jogginghose an und obwohl ich mir der Aussicht bewusst bin, reizt sie mich kaum. Ich will einfach nur für mich sein und ganz sicher keine Fragen dazu beantworten, was los ist.

„Konnte nicht einschlafen. Mach dir keine Gedanken und leg dich wieder hin. Ich will einfach nur ein bisschen für mich sein."

Schwer lasse ich den Kopf zurück auf die Ziegel fallen und knirsche mit den Zähnen, als ein dumpfer Schmerz durch meinen Hinterkopf zieht.

„Sitzt du etwa auf den blanken Ziegeln? Das ist doch viel zu unbequem." Noahs Stimme hört sich schon deutlich wacher an, als er über meinen Einwand hinweg geht, und der Druck in meiner Brust wird von einer Welle Wut durchbrochen. Beachtet wirklich niemand meine Bedürfnisse oder was ich zu sagen habe?

„Nein, ist super bequem. Also, wenn du mich dann bitte in Ruhe lassen würdest." Meine Stimme ist frostig und ich wende nicht Mal den Blick zu Noah, in der Hoffnung, dass die Nachricht bei ihm ankommt. Aber Noah, oh der so erwachsene Noah, weiß natürlich besser, was für ein kleines aufmüpfiges Mädchen wie mich gut ist.

„May, also das kannst du sonst wem verklickern. Hol dir zumindest dein Polster, wenn du schon..."

„Noah, ich habe gesagt lass. Mich. In Ruhe!"

F*ck Growing upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt