Kapitel 1 - Eine unterwartete Begegnung

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Die Yōsen-Oberschule. Dies war keine gewöhnliche Bildungseinrichtung, in welcher junge Erwachsene ihre Schulausbildung abschlossen, ihre akademischen Fähigkeiten verbesserten oder aber auf das zukünftige Leben vorbereitet wurden. Die Yōsen war eine hochrenommierte und private Elite-Schule, die in allen erdenklichen Bereichen sehr hohe Standards anstrebte. Die Lehrer des Kollegiums waren genau ausgewählt und sollten nicht nur einen exzellenten Werdegang vorweisen, sondern ebenso die Fähigkeit besitzen, die jungen Oberschüler zu motivieren und ihr vollstes Potenzial auszuschöpfen. Die Weitergabe ihres Wissens, das Lehren von sozialen Kompetenzen und kulturellen Werten sowie moralischen Grundsätzen – all das musste ein Lehrer an der Yōsen in die Ausbildung der jungen Erwachsenen fließen lassen können. Auf der anderen Seite waren natürlich auch eben jene Schüler gefordert, die einen Abschluss an dieser prestigeträchtigen Schule anstrebten. Um überhaupt angenommen zu werden, gab es grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder man verfügte über ein hohes Engagement und sehr viel Selbstdisziplin, um sich genügend auf die harten Aufnahmeprüfungen vorzubereiten oder man wurde von einem Talentsucher entdeckt und angeworben. Von diesen besaß die Yōsen einige, die nicht nur durch Japan reisten und nach vielversprechenden Talenten suchten, sondern tatsächlich auch im Ausland unterwegs waren.

Durch dieses System war diese spezielle Oberschule nicht nur ein Ort, an welchem sehr begabte Menschen aufeinandertrafen, sie war ebenso ein Hort für Exzentriker und Sonderlinge aller Art. Als solcher ging der lilahaarige Schüler, der auf den Namen Murasakibara Atsushi hörte, allemal durch. In jeglichen Bereichen fiel dieser junge Mann aus der Norm; so zeichneten ihn beispielsweise seine ungewöhnliche Größe von zweihundertacht Zentimetern, sein enormer Verzehr von Süßwaren jeglicher Art sowie seine extreme Faulheit aus. Wäre er nicht ein Ausnahmetalent im Basketball – einem Sport, auf welchen die Yōsen sehr viel Wert legte – und darin beinahe unbesiegbar, so würde man die letzte seiner signifikanten Charaktereigenschaften sicherlich nicht dulden. Doch so wie die Dinge gegenwärtig lagen, ließ man es ihm durchgehen, dass er während des Unterrichts den Kopf auf seinen Tisch legte und lustlos vor sich hin gähnte. Er hatte Hunger und das schon seit neunzig Minuten – also seit dem Beginn der Unterrichtsstunde. Es war ohnehin sehr schwierig, ihn für irgendetwas zu begeistern, dass er selbst als anstrengend empfand... Mit leerem Magen verschwand allerdings auch der minimale letzte Rest an Motivation, sodass er seinen Blick lediglich nach draußen richtete und aus dem Fenster blickte. Es schneite schon wieder, was ihn überaus nervte. Als man ihn damals für die Yōsen angeworben hatte, war mit keinem Wort erwähnt worden, wie hart die Winter im Norden Japans, genauer in der Präfektur Akita und der gleichnamigen Großstadt, ausfielen. Jetzt hing er in dieser Region fest und konnte nicht weg – was größtenteils aber daran lag, dass es ihm ein Schulwechsel viel zu anstrengend wäre. Also musste er diese Laune von Mutter Natur wohl oder übel ertragen.

Als der Nachmittagsunterricht schließlich sein Ende fand und die meisten seiner Klassenkameraden ihre Sachen zu packen anfingen, hing Murasakibara noch immer lustlos auf seinem Tisch, wobei ihm seine längeren Haarsträhnen ins Gesicht fielen. Zunächst hatte er versucht, diese wegzupusten, doch nachdem das nicht funktioniert hatte, akzeptierte er die Situation einfach, wie sie war. „Hey, Atsushi." Etwas lustlos richtete der Lilahaarige seinen Blick nach oben und erblickte dabei Himuro, der wohl nach dem Ende seines eigenen Unterrichts recht zügig zu ihm gekommen war. „Hast du Lust mitzukommen?", fragte der Schwarzhaarige mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen. Noch ehe er erklären konnte, wohin es denn überhaupt gehen sollte, gähnte der Größere nur und wandte sein Blick wieder ab. „Nee, kein Bock." Etwas überrascht weiteten sich Himuros graugrünen Augen, während er zu seinem Teamkameraden hinabblickte. Es war ja keine Überraschung, dass Atsushi oftmals schwer umgänglich war, doch Tatsuya konnte sich nicht daran erinnern, jemals derart schnell abgewiesen worden zu sein. Generell war Murasakibara seit der Niederlage beim Winter Cup im vergangenen Monat überaus schlecht gelaunt. „Hm... Und an deiner Meinung ändert sich auch dann nichts, wenn ich dir von dem Süßwarengeschäft erzähle, das ich im Internet entdeckt habe?", fragte Himuro verheißungsvoll, während sich seine Mundwinkel ein wenig kräuselten. Kaum hatten Atsushis Ohren diese Worte vernommen, drehte er nicht nur seinen Kopf zu dem Schwarzhaarigen, er richtete sogar seinen ganzen Oberkörper wieder auf. Allerdings spiegelte sich in den violetten Augen des Größeren Skepsis wider, während er versuchte, die versteckten Motive seines Teamkameraden herauszufinden. Atsushi mochte vielleicht träge und faul sein, doch er war nicht blöd. Dass Himuro ihn zu locken versuchte, entging ihm nicht.

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