2. Gina

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Durch das Fenster im Wohnzimmer sah ich nach draußen. 
In einiger Entfernung konnte man den Festsaal sehen, in dem heute der Auftakt dieser Konferenz war, über die Lily seit Wochen redete. Selbst ihre eigene Schwangerschaft schien dabei für sie in den Hintergrund zu rücken. 
Ich fand es irgendwie komisch und auch Luke schien aus seiner Sicht als Rudelarzt da etwas skeptischer zu sein. Aber Luke hatte mir mehr als einmal versichtert, dass Tyler da ein Auge drauf haben würde. 
Durch mein, für mich immer noch ungewohntes, Werwolfgehör konnte ich die große Menge an Alphas und Gefährten bis hierhin hören. Auch wenn ich in dem Gesprächsdurcheinander nicht wirklich was mitbekam.
Viel mehr verursachte es Kopfschmerzen bei mir.
,,Hier", sagte Luke und reichte mir ein Glas Wasser.
,,Danke", murmelte ich leise und nahm einen Schluck.
,,Man gewöhnt sich mir der Zeit an die vielen Geräusche."
Ich seufzte: ,,Das hast du mir schon mal gesagt... Das macht es jetzt gerade aber auch nicht besser. Ich versteh wirklich nicht wie ihr das immer aushaltet. Gerade besonders Jared nicht, der da in diesem Getümmel unterwegs ist."
Luke lachte nur leise. 
,,Es ist halt sein Job als Beta."
Ich verdrehte nur die Augen.
,,Ach Gina", sagte er nur, setzte sich neben mich und strich über meinen Arm.
Eine Gänsehaut breitete sich über meinen Körper aus.
,,Kann man sich da als Mensch überhaupt völlig dran gewöhnen?", fragte ich leise.
,,Du bist kein Mensch mehr."
,,Du weißt was ich meine, Luke!"
,,Aus einer wissenschaftlichen Perspektive kann ich da keine wirklichen Angaben zu machen. Das ist nie wirklich untersucht worden. Irgendwann galten gebissene Menschen eben als mehr oder weniger eingegliedert. Danach hat man sie nur noch als Werwölfe betrachtet."
,,Wie könnt ihr nur so wenig dazu wissen? Immerhin sind doch alles Lunas, die es gibt mal Menschen gewesen, wenn ich es richtig verstanden hab. Und eine viel wichtigere Rolle gibt es hier doch kaum. "
Luke nickte.
,,Wenn das mit der Konferenz klappt, könnten wir es ja Tyler vorrschlagen in diese Richtung zu forschen. Das würde sicherlich ganz interessante Ergebnisse liefern."
,,Wir? Da gibt es kein wir Luke. Ich hab von diesem ganzen Wissenschaftskram doch überhaupt keine Ahnung. Ich kann ja nicht mal lesen und schreiben. Wenn, wird das dein Projekt, vielleicht mit den Ärzten anderer Rudel zusammen, aber ich hab da nichts drin verloren. Mein einziger Zweck ist es doch nur eure Gefährtin zu sein. Zu mehr bin ich nicht zu gebrauchen."
,,Gina...", hauchte Luke und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Er nahm meine Hände in seine und drückte sie sanft.
,,Bitte rede nicht so schlecht von dir. Du bist mehr als einfach nur unsere Gefährtin. Lesen und schreiben sind auch Sachen, die man später noch im Leben lernen kann. Du hast doch gerade diese großartige Idee aufgebracht. Außerdem besitzt du eben deine ganz eigene, einzigartige Sichtweise auf solche Themen, die wir geborenen Werwölfe nicht sehen. Ohne dich würde dieses Projekt sicherlich nur halb so gut werden, wie mit dir."
Zweifelnd sah ich Luke an.
Es war zu erwarten gewesen, dass er sowas in die Richtung antworten würde. Vermutlich hätte das kein Werwolf gegenüber seiner Gefährtin so stehen gelassen. Doch war ich mir bewusst, wie wenig ich eigentlich von dem konnte, was andere gewandelte Gefährtinnen konnten. 
Allein wenn ich mir Lily an sah...
Sie war eine tolle Luna, so clever und auch stark. Hatte ja sogar einmal mit der Mutter ihres Gefährten gekämpft...
Ich hatte da noch meine Mühe in Gestalt überhaupt geradeaus zu laufen. Jede Wurzel und jede Unebenheit auf dem Waldboden brachte mich ins taumeln. Wenn ich in Gestalt war, schlich ich viel mehr als zu gehen, aus Angst zu fallen. 
Auch fehlte mir so unglaublich viel Bildung. Klar wusste ich viele Pflanzen und einige Überlebensstrategien, aber da war bei weitem nicht so beeindruckend, wie das was andere hier konnte. 
Allein den ganzen Papierkram und die Organisation die Jared betrieb als Beta und auch die Arbeit von Luke als Arzt... Das waren alles Sachen, die ich niemals könnte.

Die Haustür flog auf und Jared stand in der Tür.
Überrascht sahen Luke und ich ihn an. 
Ich zumindest hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass er zum Haus zurück kam.
,,Ich muss los. Tyler hat mir eine Aufgabe erteilt"; sagte er nur, kam auf mich zu und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
Irritiert sah ich ihn an.
Was war denn jetzt los?
,,Wohin musst du?", fragte Luke, ebenso verwirrt klingend, wie ich mich fühlte. 
,,Bei einem der Rudel, wo das Alphapaar eingeladen war, ist etwas passiert. Ich hab den Auftrag herauszufinden was das war und bei Bedarf zu helfen", sagte Jared nur und machte sich wieder auf dem Weg zur Tür.
Ein unwohles Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus.
,,Du lässt uns hier zurück?", fragte ich leise. 
Wie versteinert blieb Jared in der Tür stehen. Er atmete einmal tief durch und antwortete ohne mich anzusehen: ,,Wir wissen nicht was da genau passiert ist. Falls es was schlimmes ist, weiß ich dich viel lieber hier bei meinem Bruder und dem Rudel in Sicherheit, als irgendwo sonst."  

Wolfsseele - unerwartete FeindeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt