Der tavagarische Untergrund war ein Geflecht aus Beziehungen, Verwandtschaftsverhältnissen und Drohungen. Wenn eine Information an den Entscheidungsträger weitergegeben wurde, war für gewöhnlich nicht mehr erkennbar, wo sie ihren Ursprung hatte.
Dies war ein Vorteil, den sich viele der Elite Tavagariens zunutze machten, wenn etwas der Regelung bedurfte, das nicht mit moralisch vertretbaren Mitteln erreicht werden konnte.
So war es auch heute. Grit wusste nicht, von wem sein Auftrag stammte, ahnte aber, dass es jemand mit großem Einfluss gewesen sein musste. Jemand mit Macht.
Er war froh über die Deckung, die ihm die Dunkelheit bot, als er durch die Gassen der tavagarischen Hauptstadt huschte. Unter seinem schäbigen Mantel, der momentan das einzige Kleidungsstück darstellte, das er sein Eigen nannte, umklammerte er die Gegenstände, die Mor ihm gegeben hatte.
Er gehörte nicht in dieses Viertel. Hier wohnten Reiche, die, die normalerweise naserümpfend an ihm vorbeischritten, mit echtem Gold über den Ringtattoos. Hier waren die eleganten Gebäude nicht nur Ruinen, nicht nur eine nebelverschleierte Erinnerung an Schönheit.
Ein Schauder durchfuhr Grit, als sich das Haus, das Mor ihm beschrieben hatte, vor ihm aus dem Nebel schälte. Ein zweistöckiges Gebäude mit einer Wand, die komplett von einer Kletterpflanze bewachsen war. Diese Art der Dekoration war ... ungewöhnlich.
Doch es war nicht die Kletterpflanze, die den Schauer hervorgerufen hatte. Es war die Tatsache, dass ein Fenster im oberen Stockwerk des Hauses noch erleuchtet war. Diese Art von Licht bekam man in den Armenvierteln nicht zu sehen. Das hier war magisches Licht, es brannte zu hell und zu ruhig für eine Flamme. Dennoch hatte es die gleiche Bedeutung wie Kerzenschein: In dem Haus war noch jemand wach.
Grits leerer Magen rumorte. Wenn er heute noch etwas zu essen bekommen wollte, musste er das Licht im oberen Stock ignorieren.
Geduckt betrat er den Garten, schlängelte sich an den Büschen und Pflanzen entlang. Kaum wagte er zu atmen. Wenn der Bewohner ihn sehen würde ...
Doch das geschah nicht.
Schneller, als er selbst es erwartet hätte, stand er vor der mit hübschen Schnitzereien verzierten Wohnungstür. Nun konnte er leise Musik hören, sanft und wehklagend zugleich. Offenbar musizierte der Besitzer des Hauses noch. Um diese Uhrzeit. Grit konnte es nicht fassen. Reiche Leute ...
Grit fröstelte. Er fror eigentlich immer, aber wenn er diesen Auftrag erfüllte, würde es ihm etwas besser gehen. Essen half. Die Ampulle bebte in seinen Händen, als er sie aus seinem Mantel zog. Nur wenige Tropfen, hatte Mor gesagt, übertreib es, und das Haus bricht über deinem wertlosen Kopf zusammen.
Mit zusammengekniffenen Augen träufelte Grit die Flüssigkeit auf das Schloss. Es zischte leise. Ein stechender Geruch biss ihm in die Nase. Dann sprang die Tür auf, völlig lautlos. Grit musste sie kaum weiter aufdrücken, seit einigen Wochen war ihm sämtliches Körperfett abhandengekommen.
Er stand in einem dunklen, mit Teppich ausgelegten Flur, der ihm lautloses Vorankommen ermöglichte. Hier war die Musik noch lauter zu hören als draußen, eine wehmütige Melodie, die sich wie ein halb vergessener Duft durch die Luft schlängelte.
Grit zog den zweiten Gegenstand aus seinem Mantel, eine große Flasche. So langsam wie möglich, um ein verräterisches Geräusch zu vermeiden, zog er den Korken aus der Flasche und der scharfherbe Geruch starken Vokens stieg ihm in die Nase. Ungerührt drehte Grit das Behältnis auf den Kopf und beobachtete, wie der Voken sich auf dem Boden verteilte und in den Teppich sickerte.
Sein Hunger überdeckte schon lange jegliches Voken-Versprechen.
Sobald die erste Flasche leer war, wiederholte Grit die Prozedur mit einer zweiten. Nur noch ein Gegenstand blieb. Es war eine kleine Schachtel Zündhölzer. Mit einem reißenden Geräusch entzündete Grit eines. Ließ es fallen.
DU LIEST GERADE
Die Seele des Magiers
Fantasía„Die Welt ist kein Märchen. Sie ist auch kein heldenhaftes Epos. Sie ist dreckig und mörderisch und die Helden haben am Ende genauso blutige Hände wie die Bösewichte. Ich weiß nicht, wie schwer es sein wird, sich den Verox zu nähern. Ich weiß nicht...