Kapitel 4 - Irish Pub und Livemusik

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„Ich komm sofort runter", sagte ich in die Gegensprechanlage, bevor ich meine Jacke griff und die Wohnung verließ. Jacob sah mich erwartungsvoll an, als ich die Haustür öffnete und auf ihn zulief. Ich wusste nicht richtig, wie ich ihn begrüßen sollte, weshalb ich ihm lediglich aus sicherer Entfernung zunickte. Ganz wohl war mir nach dem gestrigen Tag nicht. „Hallo", sagte er. Er freute sich offensichtlich, mich zu sehen und öffnete die Beifahrertür seines Fahrzeuges für mich. „Wo fahren wir hin?", fragte ich ihn. „In meinen Lieblingspub. Er ist nicht weit entfernt", sagte er und startete das Fahrzeug.

Wir kamen wenige Minuten später in einer dunklen Gasse an. Es wirkte ein wenig unheimlich und ich verließ nur zögerlich das Fahrzeug. „Du brauchst keine Angst haben", sagte Jacob leicht grinsend. Das Grinsen sah unheimlich aus und machte mir somit nur noch mehr Angst. Ich folgte ihm, als er eine völlig überwucherte Tür öffnete. Ich atmete tief durch und lief durch die Tür. Sofort legte er seine Hand auf meinem Rücken ab und schob mich ein wenig vor sich her.

Ich war beeindruckt von ihm und seinem Wissen, aber die Berührungen fühlten sich noch nicht so schön an wie erhofft. Vielleicht würde sich das noch ändern, wir kannten uns ja noch nicht lange. Wir betraten ein uriges Lokal. Es war gemütlich, die Beleuchtung nicht zu grell und überall an der Wand hingen verschiedene Dinge aus Irland. Im Hintergrund lief irische Musik. Es gefiel mir. Die Stimmung war ausgelassen.

Als wir einen kleinen Ecktisch erreichten, nahmen wir Platz. „Herzlich Willkommen in meinem Lieblingspub", sagte er und warf mir ein sanftes Lächeln zu. Er bemühte sich wirklich, ich sollte ihm eine Chance geben. „Ab 21:00 Uhr gibt es Livemusik", sagte er und ich nickte. Jacob bestellte sich ein Bier und für mich ein Wasser. Wir verstanden uns wirklich gut. Es machte mir Spaß, mich mit ihm zu unterhalten, doch die Dynamik war seit unserem gestrigen Kuss eine andere. Er wollte offensichtlich mehr, legte immer wieder seine Hand auf meinem Oberschenkel ab oder umarmte mich. Ich konnte es noch nicht erwidern, schlug meine Beine übereinander, um seine Hand loszuwerden.

„Verfolgst du mich?", hörte ich eine Stimme hinter uns fragen. Ich drehte mich rum und riss sofort die Augen auf. „Nein", sagte ich leise und unsicher. „Es ist Zufall, dass du mit deinem Sugar - Daddy in dem Lokal auftauchst, in dem ich auftrete?", fragte er sichtlich wütend. „Ich wusste nicht, dass du hier auftrittst, Harry", versuchte ich mich zu rechtfertigen, bemerkte überhaupt nicht, dass Jacob sich bereits vor ihm aufbaute. „Der Sugar - Daddy zeigt dir gleich seine unhöfliche Seite, wenn du uns nicht in Ruhe lässt", sagte er und Harry schüttelte den Kopf, verließ jedoch unvermittelt unseren Tisch. „Sorry", sagte ich. „Dein Nachbar ist ein Arschloch", sagte er. „Wohl wahr", sagte ich genervt. Nicht einmal außerhalb meiner Wohnung hatte ich Ruhe vor Harry.

Harry betrat die Bühne und unbewusst beobachtete ich ihn, denn er wirkte wie eine andere Person. Er spielte einen langsamen Song auf der Gitarre und begann nach wenigen Sekunden mit Singen. Er hatte plötzlich die Stimme eines Engels und ich konnte mich mit meinem Blick nicht mehr von ihm losreißen. Ich wusste nicht, ob er die Songs selbst geschrieben hatte, aber eines klang trauriger als das andere. Die Songs berührten mich und ich schloss die Augen, um den Klang intensiver genießen zu können.

Als ich die Augen wieder öffnete, blickte ich direkt in Harry's Augen, der mich nie zuvor auf die Weise ansah, wie er es in diesem Moment tat. Er sang weiter, ließ mich jedoch nicht aus dem Blick. Ich versank gerade in seiner Musik, als Jacob seinen Arm um mich legte und ich ihn sofort wieder von meinem Körper entfernte. „Alles okay?", fragte er mich, während er mit seiner Hand über mein Gesicht streichelte. Ich zog mich etwas zurück und nickte nur. Ich wollte mich jetzt nicht unterhalten, viel lieber wollte ich weiterhin den Gesang von Harry genießen. Wie konnte so ein riesiges Arschloch so wunderschön singen.

„Dein Telefon", sagte Jacob und zeigte auf mein leuchtendes Display. „Das ist meine Schwester, ich geh kurz ran", sagte ich und verließ samt Telefon das Lokal. Harry verfolgte mich mit seinen Blicken auf den Weg nach draußen. „Lou!", schrie sie mir beinahe ins Ohr, als ich den Anruf entgegennahm. Ich musste grinsen, als ich ihre Stimme hörte. Sie wollte alles über die ersten Tage in London erfahren und ich erzählte ihr möglichst ausschweifend und detailliert von ihnen, da ich mich in diesem Moment erstmalig wirklich wohl fühlte, seit ich in London war. „Lou, mach nichts, was du nicht machen willst", sagte sie im Bezug auf Jacob. „Hatte ich nicht vor", erwiderte ich. Denn das hatte ich wirklich nicht.

Die Tür neben mir öffnete sich und Harry trat nach draußen, zündete sich eine Zigarette an und musterte mich, während ich noch immer mit meiner Schwester telefonierte. „Und was ist Harry's Problem? Klär das, Lou. Sonst komm ich vorbei. Der hat sie doch nicht mehr alle", sagte sie. „Ach, Harry ist einfach ein Arschloch", sagte ich bewusst etwas lauter. Anhand seiner hochgezogenen Augenbrauen wusste ich, dass er es gehört hatte. Ich beendete das Gespräch mit Lottie und ließ mich einen kurzen Moment auf die Bank vor dem Pub nieder.

„Du erzählst deinen Freunden schon von mir?", fragte Harry überheblich grinsend, als er einen Schritt auf mich zukam. „Lass mich in Ruhe", antwortete ich kurz angebunden, während ich weiter auf mein Handy blickte. Ich schrieb meiner Mutter gerade eine Nachricht, damit sie sich keine Sorgen machen musste. „Warum bist du hier, Tomlinson?", fragte er. „Hätte ich gewusst, dass du hier bist, wäre ich nicht hier", antwortete ich ihm, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. „Hat dir der Auftritt gefallen?", fragte er etwas ruhiger und ließ sich neben mir auf der Bank nieder.

Ich atmete tief durch und stand auf, ging zurück zur Tür. „Zwerg?", fragte er und ich drehte mich zu ihm, verdrehte sofort die Augen. Warum reagierte ich auf diesen Namen überhaupt. „Dein Sugar - Daddy hat vorhin Kondome am Automaten gekauft, als ich zur Toilette reinkam", erzählte er. Ich riss entsetzt die Augen auf. „Bitte?", fragte ich nach. „Du wirktest den Abend über nicht, als wäre es in deinem Interesse. Ich dachte, du solltest das vielleicht wissen", sagte er. „Warum erzählst du mir das?", fragte ich. „Du bist ein Schwächling. Ab und zu solltest du Hilfe anderer annehmen", sagte er. „Und was hilft mir gegen dich?", fragte ich, wartete die Antwort jedoch nicht ab und ging zurück in den Pub.

„Geht es dir gut?", fragte Jacob, nachdem ich den Platz neben ihm einnahm. „Hast du vorhin Kondome gekauft?", fragte ich ihn direkt. „Oh, willst du irgendwohin, wo es ruhiger ist?", fragte er mich, während er erneut seine Hand auf meinem Oberschenkel platzierte, diesmal etwas weiter oben in Richtung meiner Körpermitte. „Nein. Auf keinen Fall. Hast du?", fragte ich erneut. Er nickte. „Ja", gab er zu und sah mich mit einer Art Hundeblick an. Er war wirklich unglaublich attraktiv. Und so sympathisch mir gegenüber. Was hinderte mich?

„Jacob, ich bin wirklich noch nicht so weit. Das geht mir alles viel zu schnell und ich habe noch nie... Also... Noch nie Sex mit einem Mann gehabt", stammelte ich unsicher, auch wenn es mir unangenehm war, es auszusprechen. „Du bist noch Jungfrau?", fragte er mich etwas irritiert. „Nein. Aber ich hatte nur ein paar Mal Sex mit meiner damaligen Freundin. Wir waren jung. Das ist schon eine Weile her", sagte ich ihm. „Kein Problem. Wir richten uns nach dir. Okay?", fragte er. Ich nickte. „Kannst du die Kondome bitte wegwerfen. Ich fühl mich unwohl, wenn du sie bei dir hast". Er holte die Kondomverpackung aus seiner Tasche und ließ sie im Mülleimer neben uns fallen. Dankbar nickte ich und lächelte ihn an.

Harry, der sich zwischenzeitlich wieder auf der Bühne befand, beobachtete die Situation zwischen uns. „Soll ich dich nach Hause bringen? Du scheinst mit dem Abend abgeschlossen zu haben", fragte er. „Bitte", erwiderte ich, denn ich hatte tatsächlich abgeschlossen. Die Anwesenheit von Harry machte mich unruhig, auch wenn er mich gerade vermutlich vor Schlimmerem bewahrt hatte. Und auch in Jacob's Gegenwart fühlte ich mich heute deutlich unwohler. Ich mochte es nicht, dass er mich immer zu Dingen einlud. Ich wollte stattdessen lieber ihn einladen und mich einfach in Ruhe mit ihm unterhalten, ihn kennenlernen.

Wir verließen gemeinsam das Pub und stiegen in Jacob's Fahrzeug. „Darf ich dich morgen zum Essen einladen? Ich könnte etwas kochen", fragte ich ihn. „Du willst dich nochmal mit dir treffen?", fragte er irritiert. „Ja. Dass ich nichts überstürzen möchte, heißt nicht, dass ich dich nicht mehr sehen möchte", sagte ich. Jacob nickte, als wir gerade vor meinem Wohnhaus ankamen. „Dann bis morgen. 18:00 Uhr?", fragte ich. „Bis morgen. 18:00 Uhr!", sagte er, lehnte sich zu mir und gab mir einen kurzen Kuss auf die Wange. Die Verabschiedung war deutlich angenehmer, weswegen sich ein kleines Lächeln in meinem Gesicht entwickelte. „Schlaf gut, Louis", sagte er und fuhr sofort los, als ich ausgestiegen war.

Ich war gespannt auf den morgigen Abend. 

Neighborhood | L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt