Kapitel 2 - Jacob Moriarty

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Das Gelände der Universität war der reinste Irrgarten, was zur Folge hatte, dass ich mich bereits in der vierten Stunde verspätete. Ich betrat den Saal und wurde sofort von den Kommilitonen gemustert, als ich die Tür versehentlich mit einem lauten Knall hinter mir schloss und mich peinlich berührt auf einem der hinteren Plätze niederließ. „Und Sie sind?", fragte der Dozent, dessen Augen auf mich gerichtet waren. „Louis Tomlinson", sagte ich. „Schön Sie kennenzulernen, Mr. Tomlinson. Für die Zukunft würde ich Sie bitten, pünktlich oder gar nicht zu erscheinen. Wir werden uns nach der Vorlesung unterhalten".

Es hätte mir nicht unangenehmer sein können. Die Vorlesung, auf die ich mich am meisten gefreut habe. Bei dem Dozenten, auf den ich mich am meisten gefreut hatte. Jacob Moriarty. Vielleicht lag es an seinem Namen, denn er trug den selben Nachnamen wie der Antagonist von Sherlock Holmes, trug die selben Initialen. In seinen Vorlesungen sprach er über die Psychologie des Menschen, im Speziellen über die der von Serienkillern. Im Vorfeld hatte ich bereits zahlreiche Publikationen von ihm gelesen. Er war der Auslöser für meine Bewerbung für das Masterstudium.

Zuvor hatte ich am University Centre in Doncaster Rechtswissenschaften studiert. Auch, wenn ich niemals in einem juristischen Beruf arbeiten wollte, war es das einzige Bachelorstudium, welches im Entferntesten etwas mit dem zu tun hatte, was ich mir wirklich wünschte. Das Kriminologie Studium war ein weit entfernter, absolut unrealistischer Traum, bis ich über meine Kommentare unter Moriarty's Publikationen mit ihm in virtuellen Kontakt trat. Er setzte sich für mein Vollstipendium ein und zum Dank kam ich zu spät zu seiner Vorlesung.

Als sich die Einführungsveranstaltung dem Ende neigte, verweilte ich auf meinem Platz, bis die restlichen Kommilitonen den Hörsaal verließen. „Mr. Tomlinson, kommen Sie bitte zu mir", sagte er und ich ging langsam die Treppen nach unten in Richtung seines Schreibtisches. Ich würde in wenigen Sekunden meinem großen Vorbild gegenüber stehen. Er lächelte mich sanft an und reichte mir die Hand. Er sah noch so viel attraktiver aus, als auf allen Bildern, die ich von ihm gesehen hatte. Er war groß, ungefähr einen halben Kopf größer als ich, trug einen offensichtlich maßgeschneiderten Anzug, hatte schwarze Haare, die er nach hinten gestylt hatte. Seine Augen waren strahlend blau.

Zögerlich reichte ich ihm meine Hand. „Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, Mr. Moriarty", sagte ich sofort. „Wir können uns außerhalb der Vorlesungen gerne auf Louis und Jacob einigen", sagte er. Stolz nickte ich. „Entschuldige bitte, Jacob", wiederholte ich meine vorherige Aussage noch einmal. „Schon okay. Ich wollte dich nicht aus diesem Grund nach der Vorlesung sehen. Ich wollte meinen größten Fan und zugleich größten Kritiker kennenlernen", sagte er, während er die Augenbrauen hochzog. „Ich bin begeistert von sämtlichen Publikationen und ich bin voller Dankbarkeit für die Chance, die mir dank dir geboten wird", sagte ich. „Du bist ein vielversprechendes Talent, ich hatte keine Wahl", sagte er, während er seine Hand auf meiner Schulter ablegte. Ich werde mir die Schulter vermutlich nie wieder waschen.

„Das war deine letzte Vorlesung für heute. Wollen wir etwas essen gehen? Ich würde gerne mehr über dich erfahren". Unbewusst riss ich die Augen etwas auf. Meine Hände wurden schweißnass. Im Internet konnte ich mich ihm gegenüber stets gut verkaufen, aber vor ihm zu stehen, machte mich unglaublich nervös. Ich nickte etwas eingeschüchtert, woraufhin er seine Hand auf meinem Rücken ablegte und mich sanft zur Tür schob. Wenn das so weiterging, würde ich künftig komplett auf die Dusche verzichten müssen.

Wir unterhielten uns in einem viel zu schicken Restaurant über unsere Theorien. Er lud mich ein, das hat er bereits auf dem Weg gesagt. Es war mir etwas unangenehm, aber er kannte schließlich meine finanziellen Verhältnisse. „Ich bin beeindruckt, wieviel du mit deinen 25 Jahren in deinem Kopf hast", sagte er fasziniert. Ich hätte in diesem Moment vor Stolz platzen können. „Ich war mit 25 Jahren noch nicht so clever, das kam erst später. Jetzt bin ich 42 und ich bin froh, dass mir endlich jemand das Wasser reichen kann", sagte er leise lachend und hielt sein Glas in die Mitte des Tisches, um mit mir anzustoßen. Er trank Wein, während ich bei Wasser blieb. Ich hasste Alkohol, denn ich hasste es, die Kontrolle über mich selbst zu verlieren. Ich stieß mit meinem Glas Wasser an.

Er bezahlte die Rechnung und wir verließen das Restaurant. „Vielen Dank für die Einladung", sagte ich. „Sehr gerne, Louis. Vielleicht wiederholen wir das", sagte er. Ich nickte. „Bis morgen", sagte ich. „Bis morgen", sagte er. Wir gingen in unterschiedliche Richtungen und ich stolzierte die verregneten Straßen Londons entlang. Vielleicht war die Stadt gar nicht so schlimm wie befürchtet. Ich rief meinen besten Freund an und erzählte ihm von meinem ersten Tag und dem gemeinsamen Abendessen. Ich vermisste ihn bereits nach einem Tag, wir waren noch nie getrennt voneinander.

Als ich vor meinem Wohnhaus ankam, beendete ich das Gespräch und betrat das Treppenhaus. Ich riss die Augen auf, als ich all die leeren Bierflaschen im Hausflur entdeckte. Sofort verschwand meine gute Laune und ich betätigte die Klingel an Harry's Wohnungstür. Die Tür wurde augenblicklich durch eine wunderschöne Frau geöffnet, die ganz offensichtlich ein Model sein musste. „Ist Harry da?", fragte ich sie. Kommentarlos begab sie sich in das Wohnungsinnere.

„Hast du mir Zigaretten mitgebracht?", fragte Harry, als er mit einer weiteren, mindestens genauso wunderschönen Frau im Arm an der Tür auftauchte. „Nein! Warum sollte ich das tun. Kannst du bitte deine ganzen Bierflaschen wegräumen?", fragte ich. „Warum störst du dich daran?", fragte er mich verwundert. „Weil es ganz schrecklich aussieht", erwiderte ich, während ich meine Arme vor meinem Körper verschränkte. „Warum so zickig, kleiner Mann? Hast du nicht gut geschlafen?", fragte er und grinste mich überheblich an. Ich hasste diesen Typen bereits jetzt von ganzen Herzen. „Räum die Flaschen weg!", fuhr ich ihn an und stampfte in meine Wohnung. „Mach ich, Mama", rief er mir hinterher. Wie konnte man nur so ein großes Arschloch sein.

Ich stieg trotz der Berührungen von Jacob unter die Dusche und ließ das heiße Wasser über meinen Körper laufen, als es an meiner Tür klingelte. Hektisch trocknete ich mich ab und wickelte das Handtuch über meine Taille, ging anschließend zur Tür. Eine Frau stand vor mir, als ich die Tür öffnete. Vermutlich kam sie ebenfalls aus Harry's Wohnung, aber sie hatte ich bisher noch nicht gesehen. Selbstverständlich war sie ebenfalls wunderschön. Vermutlich war er ein Zuhälter. „Harry fragt, ob du feiern möchtest", sagte sie. „Was? Nein. Ich möchte nicht feiern", sagte ich und schlug die Tür zu.

Nach wie vor übermüdet ließ ich mich ins Bett fallen und blickte auf mein Handy. Eine Nachricht von Jacob. Wir hatten im Restaurant unsere Telefonnummern getauscht.

‚Das war ein wirklich schöner Abend. Wir sollten das unbedingt wiederholen. Ich freu mich auf dich, wir sehen uns morgen.'

Verwundert las ich die Nachricht noch einmal. Er war eine Art Berühmtheit und dennoch gab er sich mit mir ab, lud mich zum Essen ein und schrieb mir sogar Nachrichten. Ich grinste mein Telefon an und überlegte, was ich ihm antworten könnte. Ich war nicht sonderlich geschickt in so etwas, weswegen ich schon zu lange darüber nachdachte, dabei hatte er zwischenzeitlich sicher gesehen, dass ich die Nachricht bereits gelesen hatte. Ich entschloss mich, nicht zu antworten, legte mein Handy auf den Nachttisch und schloss die Augen.

Erneut riss mich das Wummern des Basses aus der Nachbarwohnung aus dem Schlaf. Ich blickte verschlafen auf mein Handy. Die Party begann diesmal schon eher, es war erst 01:00 Uhr nachts. Der gute Eindruck war mir mittlerweile egal, schließlich hatte ich es auf die nette Art versucht. Ich wählte die Nummer der örtlichen Polizei und meldete den ruhestörenden Lärm. Ungefähr eine halbe Stunde nach meinem Anruf wurde es leise im Haus. Ich hörte Stimmen an der Tür der Nachbarwohnung, wobei ich nicht hörte, was gesprochen wurde.

Zufrieden legte ich mein Handy wieder auf den Nachttisch, zog die Decke über meinen Körper und schloss die Augen. Ich war noch gar nicht ganz zur Ruhe gekommen, als es an meiner Tür klingelte. Ich öffnete die Tür und Harry schob mich zur Seite und stürmte in mein Schlafzimmer. „Du bist in meiner Wohnung", stellte ich irritiert fest. „Ja, Einstein. Du hast die Bullen gerufen? Dein Ernst?", fuhr er mich an. Er wirkte aufgebracht. „Ich habe es nett versucht, aber du ignorierst mich", sagte ich etwas eingeschüchtert. „Und da gehst du petzen?", schrie er mich an, während er sich in meiner Wohnung umsah.

„Raus aus meiner Wohnung", sagte ich zunächst leise. „Warum? Sollte ich deine Blümchen Bettwäsche nicht sehen, du Mädchen?", sagte er in immer noch aufgebrachten Lautstärke. „Die gehört meiner Schwester", sagte ich innerlich wütend, während ich krampfhaft versuchte, ruhig zu bleiben und mein Zittern zu unterdrücken. „Ganz großer Fehler, Tomlinson", sagte er, stand bedrohlich nah vor meinem Gesicht. Ich fixierte seinen Blick, wollte ihn nicht als erstes lösen. Seine Augen wurden von Sekunde zu Sekunde dunkler und ich bekam es mit Angst zu tun. „Raus aus meiner Wohnung", wiederholte ich. „Das wirst du bereuen, Zwerg", sagte er und kam endlich meiner Aufforderung nach, knallte die Tür lautstark hinter sich zu.

Neighborhood | L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt