Kapitel 6 - Retter in der Not

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„Raus aus meiner Wohnung", schrie ich ihn mit zitternder Stimme an. „Vergiss es", sagte er und kam näher auf mich zu. „Lou, was ist passiert? Sag es mir!", forderte er mich auf und setzte sich neben mich auf die Couch. „Harry, geh bitte. Ich hab jetzt keine Geduld für dich", sagte ich erneut. Meine Stimme brach zusammen und die Tränen liefen erneut.

Harry schlang sofort seine Arme um mich und zog mich in eine feste Umarmung. Ich versuchte mich, aus seinen Fängen zu befreien, doch ich hatte keine Chance. „Lass mich los", schrie ich ihn mehrfach an, doch es interessierte ihn nicht. Der Griff um mich wurde fester. Ich gab auf und lehnte meinen Kopf an seine Brust und ließ meinen Tränen freien Lauf. „Alles wird gut", flüsterte er mir ins Ohr und streichelte über meinen Kopf. Ich wickelte die Decke etwas fester um meinen Unterkörper, da dieser noch immer unbekleidet war und Harry mich keineswegs unbekleidet sehen sollte.

Wir saßen eine gefühlte Ewigkeit unverändert auf der Couch, bis er mich etwas von sich wegschob. „Bitte. Sag mir, was passiert ist", sagte er leise, während er mir sanft durch das Gesicht streichelte und meine Tränen wegzuwischen versuchte. Es war völlig zwecklos, denn sie liefen unaufhörlich. „Er hat mich aufgefordert, Sex mit ihm zu haben", stammelte ich. „Er hat dich...? Hat er...? Lou, er hat dich doch nicht etwa...?", fragte er, ohne die Frage zu Ende zu bringen. Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, er hat mich nicht vergewaltigt", sagte ich und ich konnte sein erleichtertes Ausatmen hören. „Was ist dann passiert? Erzähl es mir bitte", sagte er. Ich wollte es ihm nicht erzählen, es ging ihn nichts an. Doch mein Mund war schneller, als dass ich ihn stoppen konnte. „Er... Also er hat... Mit seinen Fingern...", versuchte ich ihm den abendlichen Verlauf zu erklären, doch ich brachte keinen ganzen Satz raus. „Er hat seine Finger in dich eingeführt?", fragte Harry so leise, dass es kaum hörbar war. Ich nickte. „Er hat drei Finger genommen und ich hatte... Alles tat weh", stammelte ich. „Hast du es ihm gesagt?", fragte er.

Ich nickte. „Er hat weiter gemacht?", fragte er. Ich nickte noch einmal. „Was ist dann passiert?", fragte er weiter. „Ich hab ihn angeschrien. Dann hat er aufgehört und mich angeschrien", erzählte ich. Er hörte mir aufmerksam zu. „Er meinte, ich sei ein Mädchen und solle mich nicht so haben, dass er nicht hier wäre, um sich mit mir zu unterhalten und dass er mich nicht umsonst ausgehalten hat. Er hat mich gefragt, ob wir jetzt vögeln können", schloss ich meine Erzählung ab. Harry nickte, zog mich zurück in seine Arme.

„Tut's doll weh?", fragte er nach einigen schweigsamen Minuten, in denen er mich einfach weinen ließ. Ich nickte. „Mir tut körperlich alles weh. Und die Situation tut mir auch weh", antwortete ich. „Lou, er ist so ein Arschloch. Halt dich fern von ihm. Wieso hast du ihn überhaupt in deine Wohnung gelassen?", fragte er. „Ich mochte ihn. Er war immer mein Vorbild. Ich wusste nicht, dass er nur darauf aus war", sagte ich ihm. Harry nickte, streichelte erneut über meinen Kopf.

„Bitte halt dich fern", sagte er erneut. Ich nickte, auch wenn das nahezu unmöglich war, da ich ihm in der Universität täglich über den Weg laufen würde. „Das hast du überhaupt nicht nötig, du bist bist ein toller Mensch", sagte Harry leise. Ich richtete mich auf und sah ihn verwirrt an. „Und warum verhältst du dich dann mir gegenüber wie ein Arschloch?", fragte ich. „Das hat nur teilweise etwas mit dir zu tun. Die Person, die vor dir in dieser Wohnung gewohnt hat, hat mir ein bisschen das Herz gebrochen", sagte er leise, sein Blick schweifte dabei zum Boden. „Du hast ein Herz?", fragte ich leicht grinsend. Er lachte leise auf und blickte mich kopfschüttelnd an.

„Abgesehen davon bist du nervig", sagte er. „Hey! Ich bin überhaupt nicht nervig", sagte ich, verschränkte die Arme vor meinem Körper. „Doch, bist du. Früher hat es niemanden interessiert, wenn ich gefeiert hab. Meist haben meine Nachbarn sogar mitgefeiert. Und dann kommst du mit deinem winzig kleinen Körper und rufst gleich die Polizei. Du bist nervig!", sagte er, lächelte mich dabei an. „Du hast nicht auf mich gehört, ich wusste mir nicht anders zu helfen", gestand ich. „Entschuldige bitte, dass ich dir deinen Start hier so schwer gemacht habe", sagte er.

Ich nickte. „Entschuldigung angenommen", sagte ich. „Darf ich dich fragen, warum du dich trotzdem mit dem Typen getroffen hast? Du sahst im Pub nicht begeistert aus", fragte er mich. „Naja, es passiert nicht allzu oft, dass Menschen an mir Interesse zeigen", gestand ich leise. „Das ist doch Quatsch", sagte Harry und schüttelte den Kopf. „Ach bitte. Wärst du an mir interessiert, wenn du auf Männer stehen würdest?", fragte ich. „Einhundert Prozent!", antwortete Harry, ohne auch nur eine Sekunde über seine Antwort nachzudenken. Verblüfft sah ich ihn an.

„Das kam schnell", kommentierte ich. „Du magst vielleicht nervig sein, aber du bist auch ganz süß. Vielleicht ein bisschen klein, aber deine Augen leuchten ganz schön und deine Haare, die sehen immer so wahnsinnig chaotisch aus. Das ist ganz hübsch. Und du scheinst ja auch so ganz nett zu sein", sagte Harry. „Ganz nett", wiederholte ich. „Du bist zu negativ, Zwerg. Du musst lernen, mit Komplimenten umzugehen. Wahrscheinlich sind ständig Leute an dir interessiert, du raffst es nur einfach nicht", sagte er. „Ja, ständig. Kann mich vor Angeboten kaum retten", sagte ich mit einem ironischen Unterton. „Ach Lou, du musst auch einfach mal die Augen aufmachen", sagte er.

„Und die Person, die dir das Herz gebrochen hat? Willst du von ihr erzählen?", fragte ich. Harry schüttelte den Kopf. „Sie war ein er", sagte er und ich riss sofort die Augen auf. „Was? Bei dir sind doch ständig irgendwelche Models in der Wohnung? Wieso ein er?", fragte ich irritiert. „Kennst du den Begriff Bisexualität?", scherzte er. „Harry, bist du gerade hier, um mich anzubaggern?", fragte ich schockiert. „Nein?", antwortete er, wobei seine Aussage eher nach einer Frage klang.

„Natürlich nicht", sagte ich genervt und rutschte etwas von ihm weg. „Was soll das jetzt?", fragte Harry irritiert. „Du wolltest die Situation ausnutzen", stellte ich fest. „Was redest du da? Ich wollte überhaupt nichts ausnutzen", sagte er. Er wirkte etwas aufgebracht, aber auch sichtbar verunsichert. „Bist du hier, um das zu Ende zu bringen?", fragte ich ihn völlig entnervt. „Um was zu Ende zu bringen? Bist du dumm? Du hast geschrien und deine Wohnungstür stand offen. Ich wollte mich versichern, dass es dir gut geht", sagte Harry. „Ich bin nicht dumm!", schrie ich ihn an und sprang von der Couch auf, wobei ich die Decke noch fester um meinen Körper wickelte.

Harry tat es mir gleich und sprang ebenfalls von der Couch auf, sah mich fassungslos an. „Louis, ich würde niemals irgendwas tun, um dich zu verletzen", sagte er leise. „Nein. Du warst nur der Retter in der Not und wolltest völlig selbstlos für mich da sein", fuhr ich ihn an. „Genau so war es aber", versuchte er sich zu rechtfertigen, doch mein Entschluss stand bereits fest. Harry wollte mich ausnutzen, das war offensichtlich.

„Bitte verlass meine Wohnung", sagte ich leise. „Ist das dein Ernst? Louis, du missverstehst hier gerade...", versuchte er zu erzählen, doch ich gab ihm keine Chance. „Geh bitte, sonst ruf ich die Polizei", sagte ich. Harry riss die Augen auf, schüttelte immer wieder den Kopf, begab sich dann jedoch in Richtung Wohnungstür. „Lou, bitte beruhig dich und dann reden wir weiter", sagte er. „Ich will nicht mit dir reden, geh einfach", sagte ich und schloss sofort die Tür hinter ihm, nachdem er meine Wohnung verließ.

Meine Tränen kehrten sofort zurück. Ich begann zu schluchzen und zu zittern. Es war ein furchtbarer Abend und Harry hat ihn, auch wenn es kaum möglich war, noch furchtbarer gemacht. Es war mitten in der Nacht, doch das hielt mich nicht davon ab, meinen besten Freund anzurufen. Er nahm das Telefonat nach einigen Sekunden entgegen. „Lou? Was ist passiert?", fragte er sofort mit verschlafener Stimme. Natürlich musste etwas passiert sein, sonst würde ich ihn nicht mitten in der Nacht anrufen.

Ich berichtete ihm so detailliert wie möglich von den Geschehnissen des heutigen Abends. Er war ebenso fassungslos. „Lou, ich komm morgen nach London", sagte er. „Zayn, das musst du nicht tun", erwiderte ich. „Natürlich muss ich das nicht, aber ich will bei dir sein", sagte er. Ich hätte in diesem Moment nicht dankbarer sein können. „Bis morgen", sagte ich und beendete dankbar das Gespräch. Er war der Lichtblick, der mich davon abhielt, meinen Kopf in den Sand zu stecken.

Neighborhood | L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt