Kapitel 15 - Ava Williams

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Harry riss seine Augen auf und musterte mein Gesicht. „Harry?", fragte ich, da er wie versteinert einen Schritt von mir entfernt stand. Er versuchte, etwas zu sagen, doch mich erreichte nur undefinierbares Gestammel. „Oh mein Gott, ich bin so dumm. Du willst überhaupt nicht mit mir schlafen. Du hältst mich immer noch für ein Schwächling", stellte ich fest und ging ebenfalls einen Schritt zurück. „Was? Nein! Ich würde nichts lieber tun, aber ich bin mir nicht sicher, ob es der richtige Zeitpunkt ist. Du bist in einer emotionalen Ausnahmesituation", sagte er und sah mich noch immer mit aufgerissenen Augen an.

Wir standen uns einen Moment gegenüber, als es an der Wohnungstür klingelte und die äußerst unangenehme Situation somit unterbrochen wurde. „Gott sei Dank", sagte ich und stürmte aus dem Schlafzimmer, doch Harry packte mich auf halbem Weg am Arm. „Nein. Lou. Mach das jetzt nicht schon wieder", sagte er und sah mich besorgt an. „Was soll ich nicht schon wieder machen? Ich habe es verstanden. Du willst mich nicht", sagte ich und versuchte, mich von ihm loszureißen. „Hör auf damit"; schrie er mich schon beinahe an, was mich zusammenzucken ließ. „Louis, du bist weder ein Schwächling, noch habe ich kein Interesse daran, mit dir zu schlafen. Ich halte es einfach nur nicht für den richtigen Zeitpunkt", sagte er. „Okay", erwiderte ich kurz angebunden und ging zur Tür, ließ Harry stehen.

Ich öffnete die Wohnungstür und blickte in das Gesicht einer mir unbekannten Frau. „Ja bitte?", fragte ich. „Bist du Louis Tomlinson?", fragte sie, woraufhin ich nickte und sie fragend ansah. „Entschuldige bitte die Störung. Mein Name ist Ava Williams. Ich würde gern mit dir über Jacob Moriarty reden", sagte sie und ich schüttelte instinktiv den Kopf. „Ich möchte nicht über ihn reden", sagte ich und war bereits im Begriff, die Tür zu schließen, doch sie hielt die Tür mit ihrer Hand auf. „Louis, bitte, mir ist etwas ähnliches widerfahren", sagte sie.

„Woher kennst du meinen Namen und meine Adresse?", fragte ich sie. „Mein Anwalt hat mir die Informationen nach der Akteneinsicht bei der Polizei gegeben. Es tut mir leid, dass ich ohne Voranmeldung bei dir auftauche, aber ich würde mich gerne mit dir unterhalten. Können wir vielleicht eine Runde spazieren gehen?", fragte sie. Sie dürfte ungefähr mein Alter gewesen sein, hatte braune lange Haare und blaue Augen. Sie hatte meine Körpergröße, war zierlich gebaut. Ich nickte. „Gib mir bitte eine Minute", sagte ich und schloss die Tür.

Etwas verwirrt ging ich zu Harry zurück. „Ich geh spazieren", sagte ich ihm. „Wer war an der Tür?", fragte er und musterte währenddessen meinen verwirrten Blick. „Ein Mädchen, ihr scheint etwas ähnliches mit Jacob widerfahren zu sein. Sie möchte mit mir reden", sagte ich. „Ich komm mit", sagte Harry sofort, doch ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich mache das allein", erwiderte ich ihm. „Louis, wenn dir irgendwas passiert, bring ich dich um", sagte er schon beinahe wütend. „Großartige Logik, Harry", versuchte ich die Situation zu überspielen. „Ich mein es ernst", sagte er. Ich zog mir eine Jacke über und begab mich zur Wohnungstür, an der Harry mich abfing. „Und unser Gespräch?", fragte er. „Ich halte es gerade nicht für den richtigen Zeitpunkt", wiederhole ich seine Worte und verließ die Wohnung.

„Entschuldige bitte", sagte Ava, als wir gerade mein Wohnhaus verließen. „Warum bist du hier?", fragte ich sie. „Du warst mutiger, als ich es damals war", begann sie. „Jacob hat mir damals zu einem Stipendium verholfen. Doch mir war nicht bewusst, dass er eine Gegenleistung dafür wollte. Ich hatte Angst, mein Stipendium zu verlieren und habe dummerweise mitgemacht. Alles, was er wollte, auch wenn ich es nicht wollte", erzählte sie. „Er hat dich...?", fragte ich, ohne die Frage vollständig auszusprechen. Sie nickte. „Das tut mir leid", erwiderte ich.

„Louis, ich bin nicht die Einzige. Durch deine Anzeige haben immer mehr Geschädigte den Mut gefunden, Anzeige gegen Jacob zu erstatten", sagte sie. „Wie viele sind ‚immer mehr'?", fragte ich nach. „Derzeit liegen neun Anzeigen gegen ihn vor".

Ich atmete tief durch, während es mir eiskalt den Rücken runter lief. „Er hat so viele Leben zerstört", stellte ich leise fest. Ava nickte. „Ich wollte mich bei dir bedanken. Du hast das getan, was wir alle hätten schon lange tun sollen", sagte sie. „Warum hast du es nicht getan?", fragte ich. „Wer hätte mir glauben sollen? Ich hatte keinen aussagekräftigen Nachrichtenverlauf und das benutzte Kondom hat er immer mitgenommen", sagte sie. „Immer? Es ist... Mehrfach passiert?", fragte ich, während meine Stimme allmählich brach.

Ava schloss für einen Moment die Augen, es schien ihr schwer zu fallen, darüber zu reden und wer konnte es ihr verübeln. „Ja, bis ich mein Studium aufgegeben habe und die Stadt verlassen habe", sagte sie leise. Sie kämpfte sichtbar mit den Tränen. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll", flüsterte ich."Louis, ich bin nicht hier, um dir mein Leid zu klagen. Ich bin hier, um mich bei dir zu bedanken. Du hast uns allen einen Denkanstoß gegeben. Du hast uns allen den Mut gegeben, ebenfalls Anzeige zu erstatten und dafür zu sorgen, dass Jacob die Strafe bekommt, die er verdient. Vor allem aber hast du dafür gesorgt, dass er nie wieder so etwas tun wird", sagte sie leise, während ihre Tränen allmählich ihr Gesicht entlang liefen.

Vorsichtig legte ich den Arm um sie. Die Situation überforderte mich, denn ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Es hätte durchaus sein können, dass ich sie mit der Berührung verschreckte, doch sie lehnte sich sofort an mich. Wir liefen eine halbe Ewigkeit durch das verregnete London und erzählten uns unser Erlebtes. Es war ein sofortiges Vertrauensverhältnis, was ich nie zuvor in diesem Ausmaß erlebt habe. Es schien offenbar Jacob's Masche zu sein und er ist jahrelang damit durchgekommen, was mich unglaublich wütend machte.

„Ich muss langsam wieder nach Hause, aber wäre es okay, wenn wir unsere Nummern austauschen könnten?", fragte sie. Ich nickte sofort und nahm mein Handy, um ihre Nummer einzuspeichern. „Danke Louis. Danke, dass du so mutig warst", sagte sie, bevor wir uns vor meinem Wohnhaus voneinander verabschiedeten.

Das Treffen hatte mich zutiefst bewegt und ich merkte die Tränen, die allmählich mein Gesicht entlang liefen. Leise schloss ich die Wohnungstür auf und streichelte Harold, die sofort auf mich zu gerannt kam. Zu meiner Überraschung mochte ich sie sehr. Harold folgte mir auf dem Weg ins Schlafzimmer. Ich schob sie sanft mit dem Fuß zur Seite, sodass sie das Schlafzimmer nicht betreten konnte und huschte selbst durch einen kleinen Spalt hinein.

Harry schlief bereits. Ich zog meine Kleidung aus und legte mich vorsichtig neben ihn, um ihn möglichst nicht zu wecken. Natürlich ging der Plan nicht auf, denn sofort spürte ich seinen Arm um meinen Körper. „Wo warst du?", fragte er und schaltete das Licht am Nachttisch an. Ich erzählte ihm detailliert von dem Gespräch mit Ava. „Ich wünschte, er wäre bei dem Sturz gestorben", sagte Harry leise. „Dann wäre ich vermutlich im Gefängnis", merkte ich an. „Dann hoffe ich eben, dass er für immer im Gefängnis sitzen und dort sterben wird", korrigierte Harry sich wütend.

Ich kuschelte mich an ihn, als er das Licht am Nachttisch wieder ausschaltete. „Lou, ich bin unglaublich stolz auf dich. Du hast all diesen Personen geholfen, hast ihnen Mut gegeben. Du bist so viel stärker, als du denkst", sagte er. „Ich werde morgen zum Dekan gehen und um die Aufhebung meiner Suspendierung kämpfen", sagte ich leise. „Darf ich dich begleiten?", fragte er. „Du darfst draußen warten", sagte ich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Schlaf gut, Harry", sagte ich leise. „Schlaf gut, tapferer Lou", erwiderte er und zog mich fester in seine Arme, ehe er die Decke über uns legte.

Während Harry neben mir in einen Dornröschen ähnlichen Schlaf fiel, lag ich wach. Meine Gedanken kreisten um Ava und die anderen, die ebenfalls eine Anzeige aufgegeben haben. Ich war für einen Moment stolz auf mich, obwohl ich das ohne Harry niemals geschafft hätte. Wäre Harry nicht an meiner Seite gewesen, wäre ich niemals so stark gewesen und Jacob hätte immer weiter gemacht. Ich war dankbar für ihn und dafür, dass er in mein Leben getreten ist.

Ich scrollte durch den Newsfeed meines Handys, bis ich einen Artikel meiner Universität fand. Ich las aufmerksam die offizielle Stellungnahme des Dekan über die kürzlich publik gewordenen Vorwürfe gegen einer ihrer Dozenten. Dieses heuchlerische Arschloch, das laut dem Artikel keinerlei Kenntnisse hatte. Hättest du mir zugehört, hättest du Kenntnis gehabt. 

Neighborhood | L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt