Kapitel 9 - Ich möchte heute nicht allein sein

401 54 58
                                    

„Mr. Tomlinson, würden Sie mir bitte folgen?", fragte mich ein Mitarbeiter der Campus Sicherheit, als ich das Gebäude gerade betrat. Ich nickte. „Worum geht es?", fragte ich. „Sie haben einen kurzfristigen Termin beim Dekan. Mehr kann ich Ihnen darüber nicht sagen", antwortete er mir mit versteinerter Miene. Ich folgte ihm in eine der oberen Etagen, direkt zum Büro des Dekan.

„Bitte treten Sie ein, Mr. Tomlinson", sagte der Sicherheitsmitarbeiter, der mir gerade die Tür öffnete. Er begleitete mich, blieb direkt an der Tür stehen, als er diese hinter uns schloss. Ich blickte zum Schreibtisch des Dekan, hinter dem dieser saß. Vor ihm entdeckte ich Jacob auf einem der beiden vor dem Schreibtisch befindlichen Plätze. Zögerlich trat ich vor den Schreibtisch, würdigte Jacob keines Blickes. „Bitte nehmen Sie Platz", sagte er und ich folgte seiner Aufforderung.

„Wir haben eine Null - Toleranz - Politik an dieser Fakultät. Unter keinen Umständen werden sexuelle Übergriffe jeglicher Art geduldet. Mr. Tomlinson, die Vorkommnisse der letzten Wochen sind nicht zu dulden und ich werde Sie hiermit bis zum Abschluss der Ermittlungen von der Universität suspendieren. Ferner wird die Aufrechterhaltung Ihres Stipendiums überprüft", sagte er, während er mich nicht aus den Augen ließ.

Ich konnte nicht glauben, was ich gerade hörte und sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Er schüttelte den Kopf. „Moment, was passiert hier gerade?", fragte ich. „Mr. Moriarty hat mich darauf hingewiesen, dass Sie nicht nur einmal ihm gegenüber übergriffig waren. Er hat Sie mehrfach darauf hingewiesen, dass er Ihr Dozent sei und Sie sich zurückzuhalten haben", sagte er ruhig und sachlich, sein Blick hingegen war voller Enttäuschung.

„Bitte was?", fragte ich und riss meine Augen noch weiter auf. „Ich war sexuell übergriffig? Das ist doch ein Scherz?", fragte ich. „Ich wüsste nicht, was an einer solchen Situation witzig sei", erwiderte er. „Jacob war derjenige, der übergriff war! Jacob war derjenige, der Grenzen überschritten hat! Jacob war derjenige, der...", redete ich mich in Rage, doch Jacob unterbrach mich. „Louis, es hat keinen Sinn. Ich habe dem Dekan dein Verhalten detailliert beschrieben. Du brauchst nicht versuchen, dich rauszureden. Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass das zwischen uns niemals passieren wird. Du hättest dich damit abfinden sollen", sagte er. Seine Stimme war ruhig und gefasst.

Zum ersten Mal blickte ich in seine Richtung. Er hatte ein blaues Auge und an seiner Nase befand sich eine Schiene, vermutlich war sie gebrochen. „Das ist nicht dein Ernst, du jämmerliches Arschloch?", fragte ich unüberlegt und stand von meinem Stuhl auf. Er tat es mir gleich. „Meine Herren, ich bitte Sie. Wir werden die Vorkommnisse genauestens überprüfen. Mr. Tomlinson, bis zur Klärung setzen Sie keinen Fuß in diese Fakultät", mischte sich der Dekan an.

„Das wirst du bereuen", sagte ich leise zu Jacob, ohne überhaupt einen Plan zu haben. Doch ich war es leid, mich von anderen herumschubsen zu lassen. „Hören Sie? Nun droht er mir", sagte Jacob in Richtung des Dekan. „Mr. Tomlinson. Verlassen Sie augenblicklich mein Büro. Der Sicherheitsdienst wird Sie nach draußen begleiten". Ich hatte in diesem Moment keine Angst vor Jacob, ich war voller Wut.

Der Sicherheitsmitarbeiter brachte mich aus dem Gebäude und verabschiedete sich, bevor er die Tür hinter sich schloss. Ich blickte auf den Parkplatz, konnte Harry's Auto jedoch nicht sehen. Ich nahm den Zettel mit seiner Telefonnummer aus meiner Tasche und wählte seine Nummer.

„Du kannst es dir noch anders überlegen", sagte Jacob, der hinter mir auftauchte, noch bevor ich die Nummer vollständig eingegeben hatte. Ich drehte mich sofort zu ihm und ging einen Schritt zurück. „Wir könnten das klären. Du könntest dein Stipendium behalten. Du weißt, was du dafür tun musst", sagte er. „Eher betrete ich dieses Gebäude nie wieder", sagte ich und spuckte ihm ins Gesicht. Er war mindestens genauso überrascht über meine Reaktion wie ich selbst. Doch schnell entwickelte sich auf seinem Gesicht das süffisante Grinsen, das mich anwiderte. „Widerspenstig. Das gefällt mir. Ich hoffe, so bist du auch beim Sex", sagte er und ging einen Schritt auf mich zu.

Zwischen unseren Körpern war nicht viel Platz, doch ich blieb wie versteinert stehen. Den Erfolg wollte ich ihm nicht gönnen. Ich hielt seinem Blick stand und ballte meine Fäuste, doch Jacob löste den Blick von mir. „Nimmst du deinen Wachhund überall mit hin?", fragte er und ich hörte die schnellen Schritte hinter mir. „Mach das nicht, so bist du nicht", flüsterte Harry, der seine Hand auf meine geballte Faust legte. „Misch dich nicht ein. Du kannst ihn nach mir haben. Ich will nur der Erste sein", sagte Jacob. Harry schlug unvermittelt zu.

Jacob blieb trotz des Schlages stehen und ging sofort auf Harry los. „Sofort auseinander", rief der langsam in unsere Richtung kommende Sicherheitsmitarbeiter und die beiden lösten sich voneinander. „Lass uns gehen", sagte Harry und nahm meine Hand in seine und zog mich zum Fahrzeug. „Warum hast du nicht angerufen?", fragte er beinahe wütend, nachdem wir eingestiegen sind. „Ich wollte dich gerade anrufen. Aber er war auf einmal da", sagte ich. Ich erzählte Harry von dem Termin beim Dekan. „Jetzt reicht es mir. Wir fahren zur Polizei", sagte er wütend und startete das Fahrzeug.

„Harry, nicht. Ich will nicht zur Polizei", sagte ich. „Entschuldige die Wortwahl, aber es ist mir gerade scheißegal, was du willst. Das war das letzte Mal, dass er so mit dir umgesprungen ist", erwiderte Harry. „Ich hab doch überhaupt keine Beweise. Die werden mir nicht glauben", sagte ich leise. „Warum sollten sie dir nicht glauben? Keine Widerrede, Louis. Wir zeigen ihn an", sagte Harry und war offensichtlich nicht von seinem Vorhaben abzubringen, weswegen ich mir meine Überzeugungsversuche sparte.

„Mr. Tomlinson, bitte begleiten Sie mich", sagte eine freundliche Beamtin in ziviler Kleidung. Wir folgten ihr und betraten einen kleinen, recht ungemütlichen Raum. „Sie sind der Lebenspartner von Mr. Tomlinson?", fragte sie in Harry's Richtung, der mich erschrocken ansah. Ich musste schmunzeln, die Frage warf ihn scheinbar etwas aus der Bahn. „Nein, aber er war für mich da und ich hätte ihn gern bei mir", sagte ich zu der Beamtin, die uns freundlich zunickte.

Ich musste jedes noch so kleine Detail über die Beziehung zu Jacob erzählen. Jede einzelne Nachricht wurde ausgewertet und jedes Treffen wurde genauestens unter die Lupe genommen. Die Vernehmung dauerte eine gefühlte Ewigkeit, doch es war okay. Harry war bei mir und hielt die gesamte Zeit über meine Hand. Die Fragen, die mir nach meinen eigenen Erzählungen gestellt wurden, waren unangenehm, doch ich wusste, dass sie nötig waren. Als die Beamtin mich fragte, wann ich zuletzt einvernehmlichen Geschlechtsverkehr hatte, guckte ich nervös zu Harry. „Soll ich rausgehen?", fragte er mich, doch ich schüttelte den Kopf. „Vor acht Jahren. Mit 17", sagte ich. Ich hatte nun ganz offiziell kein einziges Geheimnis mehr vor ihm.

„Wir würden Sie von einem Rechtsmediziner untersuchen lassen. Gegebenenfalls könnten wir DNA - Spuren an und in Ihrem Körper finden. Sind Sie damit einverstanden?", fragte sie nach Abschluss der gesamten Vernehmung. Ich nickte. „Dann folgen Sie mir bitte. Ihre Unterstützung müsste in diesem Fall bitte draußen warten", sagte sie und ich sah für einen kurzen Moment nervös zu Harry. Ich brauchte ihn bei mir. „Du schaffst das. Ich warte genau hier auf dich", sagte er und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

Die Untersuchung war noch deutlich unangenehmer, als die Vernehmung es war. Mehrere Stunden verbrachte ich insgesamt in der Polizeidienststelle und ich wollte einfach nur nach Hause. Ich war geschafft und es blieb zudem nicht mehr viel Zeit, bis Zayn heute Abend wieder die Heimreise antreten würde und ich wollte ihn wenigstens noch einmal in meine Arme schließen.

Als ich mich von Harry verabschiedete und meine Wohnungstür öffnete, rannte Zayn panisch auf mich zu. „Lou! Es ist 18:00 Uhr. Wo warst du?", fragte er und schlang sofort seine Arme um mich. „Ich war bei der Polizei", sagte ich schon fast ein bisschen stolz und erzählte ihm von dem heutigen Tag. „Wie geht es dir? Wie hast du es überstanden?", fragte er mich. „Harry war bei mir. Es lief besser als erwartet. Mir gehts eigentlich ganz gut", sagte ich. „Das freut mich. Wollen wir noch kurz etwas essen gehen und dann bringst du mich zum Bahnhof?", fragte er und ich nickte.

Ich war etwas geknickt, als ich Zayn am Bahnhof verabschieden und anschließend allein nach Hause laufen musste. Es war schön, ihn bei mir zu haben. Ich hätte mich daran gewöhnen können, denn es war wie früher. Ich betrat das Wohnhaus und blieb vor Harry's Wohnungstür stehen. Ich atmete tief durch, war etwas nervös, doch ich legte den Finger auf seine Klingel, drückte sie jedoch noch nicht. Ich blieb einen Moment unverändert stehen, bis die Tür sich von allein öffnete, ohne dass ich die Klingel schlussendlich betätigt hatte. „Du stehst schon eine Weile vor meiner Tür, willst du vielleicht reinkommen?", fragte Harry scherzend.

Noch einmal atmete ich tief durch, während Harry mich fragend ansah. „Ich möchte heute nicht allein sein. Kann ich bei dir schlafen?", fragte ich ihn zusammenhängend, ohne zu stottern. 

Neighborhood | L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt