27

27 2 0
                                    

Ich schrecke auf als mich ein Kissen trifft, und schaue mich hektisch um. Lachend steht Bayan vor mir und hält ein weiteres Kissen in der Hand, um mir dieses zusätzlich ins Gesicht zu werfen. „Du verschläfst schon wieder." Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und sehe mich gähnend um. Ich bin hier. Nicht bei Sheila und ihrem Rudel. Ich bin hier. Hier in dem Haus, in dem das Leben zwischen Wolf und Mensch geführt wird und jeden Tag etwas Neues bereithält. Ich bin hier. Bei Mom. „Du solltest mal was gegen deine Träume tun. Ich dachte schon, du knurrst mich an." Witzelt er und läuft aus dem Zimmer, um einem Kissenwurf zu entgehen, den ich ihm gleich darauf androhe. Es hat sich so real angefühlt. Viel zu oft fühlt es sich echt an. Ob das normal ist? Ich habe schon immer so geträumt. Bayan spinnt. Kann ich ja nichts dafür, dass er nicht träumt. Missmutig schaue ich auf die Uhr und stelle fest, dass sein verschlafen nicht meiner Definition entspricht. Ich habe noch mehr als genug Zeit. Ich werde zwar alles zügig hinter mich bringen müssen, aber das bekomme ich hin. Ich trödle schließlich nicht so wie mein Bruder. Den überhole ich sogar noch auf der Treppe als ich mich endlich aus dem Bett geschält habe und beschließe, zu frühstücken. „Guten Morgen." Begrüße ich Mom lächelnd, bevor sie etwas sagen kann und schlängle mich an ihr vorbei, in die Küche. Lachend sitzen Ethan und Dad am Tisch und schwelgen in Erinnerungen. Schweigend krame ich alles Nötige für mein Müsli heraus und setze mich neben Bayan an den Tisch. Als Ethan mich begrüßt, ignoriere ich ihn zuerst, ringe mir dann aber ein aufgesetztes Lächeln ab. Dem mahnenden Blick von Dad sei Dank. „Ist nicht heute das Gespräch?" Flüstere ich Bayan zu, der zustimmend nickt und zu Mom sieht, die gegenüber von uns Platz nimmt und überglücklich lächelt. Die Leute hier sind am Morgen wirklich komisch. Ich meine, wie kann man schon so aufgeweckt durch die Welt laufen? Das widerstrebt mir in allen Belangen. „Ich werde euch deshalb auch zur Schule fahren. Aber keine Sorge, ihr könnt allein reingehen." Erklärt Mom und wir atmen beide gleichzeitig erleichtert auf. In ihrem Beisein durch das Schulgebäude laufen wäre verdammt peinlich. Den Rest des Frühstücks verbringe ich mit Schweigen. Geduldig warte ich auf Bayan, ehe wir gemeinsam nach oben gehen und uns für den Tag fertig machen. Er schaut dabei immer wieder aufs Handy und tippt etwas hinein. Erlaubt mir aber nicht, einen Blick darauf zu werfen. Man muss wohl kein Genie sein um eins und eins trotzdem zusammenzuzählen und so freue ich mich still für ihn und sein wiedergefundenes Glück. Gemeinsam schlendern wir kurz vor Abfahrt nach unten und treffen an der Haustür auf Ethan. „Holst du uns nachher ab?" Frage ich hoffnungsvoll an ihn gewandt, doch anstatt einer Antwort von ihm, bekomme ich eine von Dad, der in diesem Moment ebenfalls in den Flur kommt. „Ich hole euch ab." Finster schaut er mich an. Eben genau so finster, wie ich zu ihm aufsehe und seine Worte zur Kenntnis nehme. Ethan schaut einen Moment irritiert zwischen uns hin und her, ehe er uns einen schönen Tag wünscht und aus der Tür tritt. Gefolgt von Dad, der mein leises „niemals" eindeutig zur Kenntnis genommen hat. Es aber unkommentiert lässt. Mein Glück, schätze ich. Missmutig ziehe ich Jacke und Schuhe an und warte auf Mom, die eine gefühlte Ewigkeit braucht, ehe wir aufbrechen können.

„Du wirkst etwas niedergeschlagen. Ist alles in Ordnung?" Fragt sie besorgt und genau so liebevoll, wie sie sich an Bayan wenden würde. Ich schnalle mich auf dem Beifahrersitz an und schließe die Tür, ehe ich sie bloß einen Moment schweigend ansehe. Keine Ahnung, was ich ihr sagen soll. Ausgerechnet ihr, meine ich. Sie weiß nichts. Kennt mich nicht. Nicht nach all den Jahren. Kennt weder meine Geschichte, noch kenne ich ihre. Wir sind Fremde, ohne uns wirklich fremd zu sein. Es ist ein komisches Gefühl. Eines, das zu viele Fragen offenlässt, um sich darauf einzulassen. „Du kannst mit mir reden. Egal was ist." Bietet sie an, ohne eine Forderung zu stellen und fährt dann vom Hof. Ich sehe sie einen Moment lang an. Frage mich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich hier hätte wohnen können. Ob Bayan und ich uns ähnlicher wären als jetzt. Ob Ethan und ich noch immer eine so enge Bindung hätten, wie damals. Ob Dad und ich ein anderes Verhältnis zueinander haben würden als jetzt. Ich fahre mir durch die Haare. Nein, verdammt. Ein völlig aus der Luft gegriffener Gedanke. Schließlich werde ich nie erfahren, wie es wäre. Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Also wozu darüber nachdenken? Die Fahrt über unterhalten Bayan und Mom sich über belanglose Themen. Ich beteilige mich nicht. Das tue ich nie. An der Schule angekommen wünscht sie uns einen angenehmen Tag und verspricht uns, erst in fünfzehn Minuten auszusteigen. So haben wir genug Zeit, um in den Klassenräumen zu verschwinden und nicht mit ihr in Verbindung gebracht zu werden. Schnell springe ich aus dem Wagen, schultere den Rucksack und winke den Mädchen zu, die kichernd am Schultor stehen und mich mit hochroten Köpfen beobachten. Bayan zieht mich unsanft ins Gebäude, hält mich aber nicht davon ab, jedem einzelnen Mädchen, das mir wohlgesonnen erscheint, ein Zwinkern zu schenken. Die Klausur, die der Mathelehrer uns auf den Tisch wirft, starre ich einen momentlang etwas zu erschrocken an. Seinem Blick nach zu urteilen zumindest, denn er klopft mir daraufhin ermutigend auf die Schulter und ist nicht überrascht als ich die Klausur bereits viel früher als die anderen abgebe. Ich bin nicht einmal eine Woche an dieser Schule und soll direkt einen Leistungsnachweis erbringen? Lächerlich. In Chemie war es dasselbe. Zugegeben, sollte die Note nicht gut ausfallen, wird sie einfach gestrichen. Aber auf das Mitschreiben könnte ich dennoch verzichten. Den Rest der Stunde verbringe ich damit Strichmännchen zu zeichnen. Als es dann endlich zur Pause läutet, bin ich es diesmal, der Bayan unsanft hinter sich herzieht. Als wir jedoch auf dem Schulhof ankommen, wird mein Plan zum Fußballplatz zu gehen, von Lizzys Anblick in der Luft zerrissen und niedergelegt. Bedrückt schaut Lizzy auf die graue Tischtennisplatte hinab. Skeptisch werfe ich meinem Bruder einen Blick zu, welcher meinen Gedanken zu teilen scheint und auf direktem Wege auf sie zu steuert. „Was ist passiert?" Besorgt setzt er sich neben sie und überspringt damit die gängige Begrüßung. Ich schaue mich vorsichtshalber nach neugierigen Zuhörern um und bleibe mit verschränkten Armen vor den beiden Turteltauben stehen. Bayan ist deutlich besser darin solche zart besaiteten Emotionen aufzufangen, weshalb ich ihm das Reden überlasse. Außerdem ist er seit meiner Rückkehr ohnehin irgendwie anders. So, nett und gut gelaunt. Woran auch immer das liegt, ich werde mich erstmal daran gewöhnen müssen. „Ach, nichts Wichtiges. Wie war eure Klausur?" Genervt von diesem anhaltenden Mädchentrend, nicht zugeben zu wollen, dass sie etwas belastet, verdrehe ich die Augen. Ermahnend fixiert mein Bruder mich und rückt näher an Lizzy heran, als ich meinen Unmut hinunterschlucke und nicht weiter zum Ausdruck bringe. Ja, auch ich kann durch höfliche Zurückhaltung glänzen. „Du kannst mir alles erzählen, Liz. Ich ertrage es nicht, dich so zu sehen." Angeekelt von seiner kitschigen Art drehe ich mich um und widme mich dem Schulhof. Ich ertrage verliebte Teenager nicht. Mit denen könnte man mich jagen. Umso schlimmer, dass ausgerechnet mein Bruder zu dieser Sorte Teenie gehört und ich einen großen Teil dazu beigetragen habe. Verflucht. Hätte ich mal länger darüber nachgedacht, wäre ich wohl kaum zu dem Entschluss gekommen das mit den Beiden anzukurbeln. Ich hätte ihm nicht den Mut machen sollen, sich mit ihr auseinanderzusetzen. „Lio und seine bescheuerten Freunde haben mich nach der Schule verfolgt und meinen Rucksack und damit all meine Hausaufgaben und vorbereiteten Referate im Bach versenkt." Das hört sich nach Ärger an, meldet mein eigens kreiertes Radar in meinen Ohren, woraufhin ich mich interessiert doch wieder den Turteltauben zuwende und meine Sonnenbrille aufsetze. Coolnes Faktor und so. „Wer ist dieser Leo?" Abweisend schauen mich die Zwei an. Bayan beinahe schon skeptisch. Er scheint genug von Auseinandersetzungen zu haben. Kein Wunder. Die letzte hat ihm ziemlich zugesetzt. Schätze ich mal. Zumindest ist er seitdem anders. Wenn auch positiv. Ich ergänze meine Frage also breit grinsend, um die Chance auf eine Antwort zu erhöhen. „Ich frage für einen Freund." Anzüglich wackle ich mit den Augenbrauen, doch auch das scheint Lizzy nicht davon zu überzeugen mich bei dieser Angelegenheit anzuheuern. Unverständlich, wenn man bedenkt, wie kreativ ich dabei bin, meine Opfer zur Vernunft zu bringen und ihnen Reue einzuprügeln.

Ich meine, einzureden. Ihnen Reue einzureden. Nutzt die Macht der Sprache, ihr Lieben. Sie ist so viel mehr wert als Gewalt. Genug. Das reicht mit guter Vorbildfunktion. „Er heißt Lio, wohnt bei mir in der Straße und gehört zu Nicks Freunden. Er mochte mich nie. Man mag eben nicht jeden. Ist doch völlig normal." Redet Lizzy sich ein. Ich werde nie begreifen, wie man sich damit arrangieren kann, geärgert zu werden. Umso schlimmer, dass es anscheinend eine gängige Methode ist. Ansonsten würde ich nicht so sehr mit meinem auffälligen Verhalten an den Pranger gestellt werden. So haben sie es zumindest immer bezeichnet. Sich selbst zur Wehr setzen als auffällig zu bezeichnen finde ich zwar nicht unbedingt passend, aber wer fragt schon ein Kind nach seiner Meinung. „Wer nennt sein Kind bitte Lio? War für das E kein Platz auf der Geburtsurkunde? Ich meine, Lio. Das ist doch..." Ich verstumme, als Bayan mich böse anfunkelt und beschließe ihnen meine äußerst kreativen Rachepläne vorzuenthalten. Wer meine Aufmunterungsversuche nicht schätzt hat mein rachsüchtiges Talent nicht verdient. „Heute bringen wir dich nachhause. Das tun wir so lange bis wir eine Lösung für diese Idioten gefunden haben." Beschließt Bayan ohne mich zu fragen und ignoriert ausnahmsweise meine vielsagende Mimik. Das dazugewonnene Selbstbewusstsein scheint ihm zu Kopf gestiegen zu sein. Gefällt mir. Solange es mich nicht beeinträchtig, selbstverständlich. Da ich aber sowieso nicht vorhatte, mit Dad nachhause zu fahren kommt mir dieser Grund ganz gelegen. So habe ich immerhin eine vorbildliche Begründung zu verzeichnen, wenn er sich beschwert. Spätestens Mom wird mir zustimmen. Ihr waren zwischenmenschliche Dinge schon immer wichtiger als formelle Absprachen. „Ich möchte euch keine Umstände machen." Innerlich schlage ich meinen Kopf gegen eine Wand. Spätestens jetzt hätte ich mich von ihr getrennt. Sie hätte das Angebot auch einfach ablehnen können. Das Wort nein kann ich ihr auch buchstabieren, wenn es ihr entfallen ist. Kein Problem. „Das tust du nicht. Niemals. Außerdem können wir so mehr Zeit zusammen verbringen." Entnervt von dem erneuten Kitsch direkt vor meinen Augen seufze ich laut, doch erhalte kein Feedback. Die Zwei sind bereits wieder in ihrer verliebten Traumwelt verschwunden und schauen sich tief in die Augen.

The Alpha And Me -Death Note-Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt