Schweigend nehme ich den heißen Kakao an, den Ethan mir reicht und starre Löcher in ihn hinein. Als Kind habe ich darauf geschworen, er habe eine heilende Wirkung. Einen schlechten Tag gehabt? Eine Tasse mit heißem Kakao löst die Wolken über dem Kopf in Windeseile auf. Fehlt nur noch ein heißes Bad und schon sind alle Probleme vergessen. Es war ein Irrglaube. Als Kind habe ich die Schwere des Lebens nicht annähernd begreifen können. Es gibt Dinge, die werden durch einen heißen Kakao etwas erträglicher. Und dann gibt es Momente, in denen man sich lächerlich vorkommt, wenn man mit einer heißen Tasse dasitzt und glaubt, es könnte irgendetwas gegen all das um einen herumtun. Wie naiv ich als Kind doch gewesen bin. Wie einfach die Welt doch gestrickt gewesen ist. Bayan schleicht die Treppe hinunter. Setzt sich neben mich an den Tisch und nickt dankend als Ethan ihm ebenfalls eine heiße Tasse vor die Nase stellt. Wir schweigen. Jeder von uns scheint in seine eigene Welt versunken. Es vergehen einige Minuten, ehe sich auch Zachary zu uns gesellt und sich an unserem Schweigen zumindest vorerst beteiligt. Ich zwinge mich, ihn nicht anzusehen, während meine Gedanken um ihn kreisen und ich mich frage, ob es ein Zufall gewesen ist. Dass er so ruhig und entschlossen gehandelt hat, meine ich. Wieder einmal wird mir klar, wie fest das Bild in mir verankert ist. Das Porträt eines jähzornigen Wolfes, der alles und jeden um sich herum in den Abgrund reißt. Und das, ohne auch nur einen Funken von Mitgefühl. Vielleicht ist es reine Manipulation. Sein Auftreten. Er wäre durchaus dazu in der Lage. Uns alle hinters Licht zu führen und sich dabei heimlich zu amüsieren, während sein Plan perfekt aufgeht, ohne dass es auch nur einer bemerkt. Doch dafür müsste es erstmal einen Plan geben. Ich reibe mir die Augen, um das Bild in meinem Kopf loszuwerden. Leerer Notizblock. Das habe ich mir vorgenommen. Ihn zu beurteilen, wie er mir heute begegnet. Unabhängig von unserer Vergangenheit. Er ist ruhig geblieben. Hat sich, genauso wie Cash, für Bayan eingesetzt und das, obwohl ihn niemand darum gebeten hat. Mir kommen die Worte wieder in den Sinn, die er an Joshua richtete, doch gerade, als ich mich in den nächsten Gedankenstrudel werfen will, ergreift Bayan das Wort. „Wo ist Cash?" Fragend schaut er Zachary an, der von seiner Tasse aufschaut und keinen blassen Schimmer zu haben scheint. Irritiert zieht Bayan eine Augenbraue hoch und nippt an seinem Kakao. „Ich habe ihm seit dem Streit nicht mehr gesehen." Erkläre ich, als mich die Augen des Teenagers treffen und die anderen beiden stimmen mir ebenfalls zu. Nachdenklich kaut er auf seiner Unterlippe herum und versteinert dann als ausgerechnet Joshua und Jayden die Küche betreten. Das friedliche beisammen sein bekommt einen faden Beigeschmack. Niemand wagt es, etwas zu sagen. Dafür sprechen die Blicke, die ausgetauscht werden, ihre ganz eigene Sprache und ich bin froh als die Zwei mit ihren Chipstüten wieder nach oben verschwinden. „Ein Jammer, dass er dieses Mal nicht abhaut wie ein Hund." Knurrt Bayan leise und erhält von mir einen mahnenden Blick. Streit hin oder her. So einen Umgang wird in diesem Haus nicht geduldet. Zachary und Ethan hingegen schmunzeln amüsiert, was mich deutlich weniger positiv stimmt, als es vielleicht sollte. Ich meine, alles ist besser als ein Haus voller Feinde. Dass sie allerdings so schnell sympathisieren, habe ich auch nicht erwartet. Eine alte Freundschaft schläft wohl nie vollständig ein. „Wenn er nicht in deinem Zimmer ist und nicht in meinem, ist er noch dort draußen." Führt Bayan das angefangene Gespräch fort und schaut wieder bloß Zachary an, der diese Information nicht auch nur ansatzweise als bedenklich einstuft. Ich schaue auf die Uhr. Es ist bereits zehn. Cash sollte längst zurück sein. Warum auch immer es ihn fortgetrieben hat, aber über Nacht wegbleiben? Das erscheint mir bedenklich. „Er ist in Alaska aufgewachsen. Da ist kilometerweit kein Mensch gewesen. Der kommt schon klar." Brummt Zachary als Bayan ihn weiterhin anstarrt und eine Antwort fordert. Ethan, der zuvor noch ebenso besorgt ausgesehen hatte, wie ich, nickt verständnisvoll. „Du lässt ihn also einfach dort draußen? Die ganze Nacht?" Vorwurfsvoll schaut Bayan seinen Gegenüber an, der noch immer keinen Grund erkennt, um auch nur ansatzweise Besorgnis zu verspüren. „Er war in Alaska teilweise tagelang weg. Er kam jedes Mal ohne auch nur einen Kratzer zurück." Erklärt Zachary seelenruhig, stellt seine leere Tasse in den Geschirrspüler und setzt sich wieder zu uns an den Tisch. Bayan blickt fragend durch die Runde, doch erhält nur von mir Zuspruch. Für Ethan ist das Alaska Argument Grund genug, sich rauszuhalten. „Wir müssen ihn suchen." Entschlossen nicke ich und stehe auf. Draußen nach dem Rechten zu sehen ist deutlich angenehmer als mir den Kopf zu zerbrechen. Außerdem gehe ich ohnehin davon aus, dass Cash sich in unmittelbarer Nähe zum Wohnhaus aufhält. Wozu davonlaufen? Er kennt hier niemanden. Erleichtert über meine Unterstützung räumt Bayan eilig unsere Tassen ein und läuft dann zur Garderobe, um sich Jacke und Schuhe anzuziehen. „Wenn ihr ihn findet, schläft er bei dir. Klar?" Knurrt Zachary dem Teenager noch zu, bevor dieser aus der Haustür stürmt. „Er ist bestimmt am Strand." Beruhige ich Ethan, der die spontane Suchaktion mit einem besorgten Gesichtsausdruck verfolgt und mir mit einem sanften Lächeln über den Arm streicht. Sein unerschütterlicher Optimismus ist beneidenswert.
Wir suchen zwei Stunden. Zwei Stunden im Regen, der die Witterung erheblich einschränkt. Der einzige Anhaltspunkt sind Pfoten Abdrücke im Sand, die sich allerdings am Waldrand verlaufen und somit unbrauchbar sind. Geknickt stehen wir da, schauen in den Wald hinein und hoffen, dass er in der Zwischenzeit bereits nachhause zurückgekehrt ist. „Vielleicht fühlt er sich unwohl im Haus. Nach so vielen Jahren dort draußen." Nachdenklich sieht Bayan mich an. Die Regenjacke hat ihren Dienst längst aufgegeben und so rinnen zahlreiche Wassertropfen über seine Haare, sein Gesicht hinab. „Meinst du?" Er schaut ein letztes Mal in den Wald, ehe er sich umdreht und den Stand entlang stapft. Ich folge ihm und bekräftige meine Hoffnung, dass es Cash gut geht. Dass er schon zurechtkommen wird. Dass wir uns nicht allzu sehr sorgen brauchen. Eben das, was man als Mutter in solchen Momenten sagt. Den Rückweg über reden wir kein einziges Wort mehr miteinander. Stille aushalten. Sie nicht als unangenehm oder Fehl am Platz empfinden. Etwas, das ich wohl lernen muss. Da sein, ohne etwas abzuverlangen. Keine Löcher in den Bauch fragen und ihn dazu drängen, mir meine Fragen möglichst schlüssig zu beantworten. So belastend der heutige Tag auch gewesen ist. So groß ist auch der Sprung, den er und ich aufeinander zu gemacht haben. Ich habe seit Monaten das erste Mal das Gefühl, ihm wirklich nahe zu sein. Als wir auf dem Hof ankommen, lässt Bayan es sich nicht nehmen, ein letztes Mal alle Orte abzusuchen, die als Versteckmöglichkeit dienen könnten. Ich warte geduldig auf ihn und lächle Ethan dankend entgegen, welcher am Küchenfenster steht und erst jetzt, wo wir wieder zurück sind, das Licht ausschaltet. Es ist wieder einer dieser Momente, die sich so unbezahlbar gut anfühlen. Zwischen all den Trümmern nicht ganz allein zu sein. Zu wissen, er ist da und gesehen zu werden. „Er ist zäh." Muntere ich Bayan auf, der sich mit trüber Miene aus der Werkstatt schleppt und mir bloß ein leeres Nicken widmet. Wir einigen uns darauf, dass wir ihn gleich am nächsten Tag erneut suchen werden und gehen beide gleichermaßen missmutig ins Bett. Joshua sehe ich in der Stunde, die ich zum Einschlafen brauche, nicht mehr. Er schläft vermutlich bei Jayden im Zimmer. Braucht Abstand, wie jedes Mal, wenn wir aneinandergeraten. Wenn wir uns nicht einig sind und er sich nicht ernst genommen fühlt. Was wohl in ihm vorgeht? Ob er auch da liegt und die Decke anstarrt bis ihm irgendwann die Augen vor Erschöpfung zufallen? Irgendetwas in mir, hofft es. Irgendetwas in mir, wünscht es sich. Nicht allein mit dem Schmerz in meiner Brust zu sein, der seine Anwesenheit in mir auslöst.
Der nächste Tag beginnt mit einer morgendlichen Suche nach Cash. Wieder ohne Erfolg. Wieder beteiligt ausgerechnet Zachary sich nicht daran. Wieder begegnet Bayan ihn irritiert, gar vorwurfsvoll und ich kann es ihm nicht verübeln. Für mich käme es nicht infrage, so gleichgültig mit der Abwesenheit meines Sohnes umzugehen. Fern liegt ihm dieses Verhalten allerdings nicht. War er doch schon immer kalt und zynisch, wenn er sich im Recht sah. Etwas, das sich an ihm wohl nicht geändert hat. Ethan versichert, bis zu seiner Spätschicht ein Auge auf die Umgebung zu haben und so steigt Bayan schließlich zu mir in den Wagen. „Du kannst mich jederzeit anrufen, hörst du? Ich mache heute früher Feierabend. Dann können wir die Suche ausweiten." Sage ich eindringlich als ich vor der Schule halte und womöglich mehr Sorge habe, ihn dort hineinzuschicken als er. „Vielleicht nutzt du den Tag, um mit Liz zu sprechen." Sein zuvor dankender Blick wird schlagartig finster und ich beiße mir verärgert auf die Unterlippe als er ohne ein weiteres Wort aussteigt und den Rucksack schultert. Vorschläge unterbreiten. Aus diesem Alter ist er raus. Verdammt, Heather. Ohne sich noch einmal umzusehen, stapft er in das Gebäude und ich atme tief durch, um die Sorge aus meinem Herzen zu jagen. Er ist taff. Er wird es schon schaffen. Den Tag auf der Arbeit verbringe ich dennoch mehr abwesend als alles andere und ausnahmsweise bin ich froh darüber, als ich erfahre, dass Tessa sich für den heutigen Tag krankgemeldet hat. Gespräche über die anstehende Party, die als Pflichtprogramm für alle Mitarbeitenden ausgesprochen wurde, kann ich nun wirklich nicht gebrauchen. Abgesehen davon, dass ich mir ohnehin irgendeine Ausrede einfallen lassen werde, um dort nicht auftauchen zu müssen. Auf der Rückfahrt begnügen wir uns mit Burgern und Pommes, um keine Zeit zu verlieren. Auf dem Hof angekommen erfrage ich den derzeitigen Stand und stelle besorgt fest, dass Cash noch immer nicht aufgetaucht ist. Zachary beäugt unser Vorhaben nach wie vor ohne jegliches Interesse und so sind es wieder nur Bayan und ich, die sich unermüdlich stundenlang auf die Suche nach Cash machen, der mittlerweile bereits 24 Stunden als vermisst gilt.
DU LIEST GERADE
The Alpha And Me -Death Note-
Hombres LoboViele Jahre sind vergangen, seit Cash und Zachary das Rudel verlassen haben. Jeder Einzelne geht anders mit den Ereignissen der Vergangenheit um, was an dem einen oder anderen nicht spurlos vorbei geht. Vor allem nicht dann, wenn die Vergangenheit...