Ich setze mich neben die mümmelnden Nager und schließe die Augen, für einen kurzen Moment und genieße die Knabbergeräusche meiner Findelkinder. Ein kurzer, aber heilender Moment am Tag, ohne den ich mein Leben schon lange nicht mehr bestreiten kann und zerstört wird er, wie so oft, von einem viel zu neugierigen Besucher. "Sie sehen ziemlich fit aus. Wie lange sind sie noch Teil meines Mechaniker Teams?" Höre ich Ethans Stimme und ärgere mich still darüber, nicht abgeschlossen zu haben. Der hölzerne Stuhl stöhnt leise, als Ethan sich setzt und an mir vorbei, zu den Kaninchen schaut. "Ich weiß nicht. Höchstens eine Woche, schätze ich." Ich widme ihm noch einen desinteressierten Blick, doch dieser läuft ins Leere, weshalb ich ebenfalls zu den kauenden Nagern schaue, die überglücklich dasitzen und die Karotten in Windeseile verputzen. "Bist du traurig darüber?" Ich winkle die Beine an und umschlinge sie mit meinen Armen, bevor ich meinen Kopf auf meinen Knien ablege und etwas Zeit verstreichen lasse. "Wann bin ich das nicht?" Ethan schweigt. Nicht, weil er die Melancholie als unangenehm empfindet und sie loswerden will. Er tut sich bloß schwer damit, angemessen zu reagieren. Wem geht das schon leicht von der Hand? Wohl den wenigsten. Immerhin macht er sich Gedanken, bevor er spricht und zeigt sich nach wie vor empathisch. Nicht, wie andere. Auch wenn ich die eigentliche Absicht seines Besuches meilenweit gegen den Wind riechen kann, genieße ich doch irgendwie seine Anwesenheit. Begründet oder nicht, er ist ein guter Kerl. Das war er immer. "Du musst hier nicht sitzen und mich ausquetschen, nur weil Joshua sich bei dir ausgekotzt hat." Ich werfe Ethan einen vielsagenden Blick zu und seinem Ausdruck in den Augen nach zu urteilen, habe ich genau ins Schwarze getroffen. Er ist das Herz dieser Familie. Jeder vertraut sich ihm an. Es ist ein Leichtes eins und eins zusammenzuzählen und davon auszugehen, dass Joshua seinen Frust am nächstbesten ausgelassen hat. "Um ehrlich zu sein, war er gar nicht bei mir. Er hat sich bei Jayden Luft gemacht und ich wollte ihm zuvorkommen. Vielleicht dachte ich, du möchtest lieber mit mir sprechen als mit Jayden. Wegen diesem beste Freunde Ding, weißt du?" Ich zucke mit den Schultern. Sich bei seinem besten Freund Luft machen ist sogar noch nachvollziehbar. Freispruch für Joshua. Naja, bis auf die Tatsache, dass er keinen Freispruch verdient hat. Weil er nun mal er ist. "Ich habe nicht mit ihm fahren wollen, das ist alles. Ich bin alt genug, um allein nachhause zu gehen. Was spricht also dagegen?" Mit dieser Antwort hat er gerechnet. Seiner ausgeprägten Stirnfalte nach zu urteilen zumindest. Zugegeben, diese Antwort habe ich bereits unzählige Male gegeben. Ich bin nicht sonderlich kreativ in der Gestaltung von sich wiederholenden Gesprächen. "Was hat er dir getan?" Wieder zucke ich mit den Schultern. Wieder lasse ich Zeit verstreichen. Wieder wühle ich in meiner Vergangenheit herum. Wieder grabe ich in meinen Gefühlen und Gedanken und wieder gebe ich dieselbe Antwort, wie die Male davor. "Ich weiß es nicht." Da ist er wieder. Dieser Moment. Diese Stille, die ihn ohne eine befriedigende Antwort zurücklässt. Und doch hört er nie auf. Seit Monaten fragt er immer und immer wieder. Geht jedem meiner emotionalen Ausbrüche auf den Grund oder versucht es zumindest. Und irgendwo tief in mir drin bin ich ihm vielleicht sogar dankbar dafür. „Wenn du es mir erzählen möchtest, weißt du ja, wo du mich findest." Ein Ende, das uns auch bereits seit Monaten verfolgt. Es ist immer dasselbe. Eine Art Routine und doch wird er nicht müde davon. „Hilfst du mir bei den Vorbereitungen fürs Grillen?" Irritiert ziehe ich eine Augenbraue hoch. Eine Geste, die er nicht sieht, weil ich es nicht als nötig erachte, meinen Blick von den Nagern zu lösen. „Es regnet in Strömen." Gebe ich ihm meine Abneigung zu verstehen und bringe Loki noch eine Karotte. „Der Grill steht geschützt vor Regen und Wind. Grund genug, es zu wagen. Das Beste aus dem Wetter machen und Erinnerungen schaffen." Sein Optimismus ekelt mich an. Seine Anwesenheit könnte sich aber durchaus als nützlich erweisen, wenn ich auf Jayden oder Joshua treffe. Außerdem hasse ich es in meiner pessimistischen Stimmung zu verweilen und er ist die beste Möglichkeit, sich dieser zu entziehen. Also stimme ich zu und folge ihm ins Haus. Dort angekommen springe ich erst einmal unter die heiße Dusche und werfe mich in Jogginghose und Hoodie. Ethan hat bereits einen Großteil der Vorarbeit für die Salate geleistet und übergibt die restliche Arbeit lächelnd an mich weiter, während er das Fleisch mariniert. Wir reden nicht. Die folgende Stunde besteht nur aus Schweigen und dennoch fühlt es sich keinesfalls kalt oder fremd an. In seiner Nähe ist das Leben irgendwie anders. Besser. Zumindest ein klein wenig. Das ändert sich allerdings als Jayden und Joshua die Treppe hinunterkommen und dabei über irgendwelche lächerlichen Insider witzeln. Ihre Anwesenheit reicht aus, um meine Stimmung wieder in das gewohnte Tief zu ziehen. „Dir fehlt nur noch eine Kochschürze." Zieht Jayden unser aller besseren Hälfte auf und holt sich eifrig nickende Bestätigung von Joshua ab. „Und euch eine Portion Motivation, mitzuhelfen und Kochen zu lernen." Die Beiden schauen sich an, wie ein altes Ehepaar und verziehen dabei ihre Gesichter zu Grimassen. „Ne, die wichtigen Aufgaben überlassen wir lieber dir." Ich beiße mir auf die Unterlippe, um meinen Gedanken nicht laut auszusprechen, doch kann es mir nicht verkneifen. „Das klingt nach euch." Die ungewollte Aufmerksamkeit erlangend stelle ich die Salatschüssel auf der Theke ab. Wohlwissend, wie sich die Situation zuspitzen könnte. „Was sagst du, kleiner Wolf?" Jaydens Nerven sind bereits angezählt. Er scheint keinen besonders guten Tag gehabt zu haben. Sonst würde er sich auf meine Worte nicht einlassen. Dieses Wissen sollte ausreichen, um die Situation zu entschärfen und es gut sein zu lassen. Doch in mir ruht auch noch etwas Restenergie, die es loszuwerden gilt und scheinbar ihre Möglichkeit gefunden hat. Entschlossen blicke ich zu ihm auf und lasse mich auf die Auseinandersetzung ein. „Ihr seid doch ohnehin gut darin, euch vor Aufgaben zu drücken." Er schmunzelt über meine Worte, während Joshua sich durchaus angegriffen fühlt. Das müsste er nicht. Angriffsfläche bieten tut man schließlich nur, wenn man welche zur Verfügung hat. Würde er wissen, dass meine Worte belanglos sind, müsste er sich nicht darüber aufregen. „Was soll das heißen?" Widmet er sich nun der Auseinandersetzung, die ohne ihn an diesem Punkt bereits beendet gewesen wäre. Jayden macht nämlich keinerlei Anstalten, sich darauf einzulassen. Ihn interessiert meine Meinung schlichtweg nicht. Ethan stellt derweil das Tablett mit dem Fleisch beiseite und stellt sich zwischen uns. Normalerweise reicht seine Anwesenheit aus, um Streitigkeiten zu ersticken oder zumindest zu einem kleineren Übel zu degradieren. Doch dieses Mal hinterlassen seine Spuren keinen Einfluss auf das Geschehen. „Was tragt ihr schon großartig zu diesem Rudel bei?" Joshua schiebt sich an seinem besten Freund vorbei, der die Vorstellung amüsiert zu verfolgen beginnt. Ethan legt seine Hand auf meine Schulter, doch ich ignoriere seinen Versuch, mich zum Schweigen zu bewegen. „Die Menschlichkeit ist alles, was euch einen Grund einräumt, zu bleiben. Unter Wölfen hätte man euch längst wie unnützes Ballast verstoßen." Es ist ein Satz, der einem Ethan nichts bedeutet hätte. Genauso wenig wie Mom. Joshua hingegen springt auf solche Vergleiche an wie ein hungriger Tiger. Er fühlt sich seiner wölfischen Seite viel zu eng verbunden, als dass er sich damit abfinden kann, solch eine Aussage stehen zu lassen. Für ihn ist der Wert eines Wolfes deutlich höher als der eines Menschen. Eine immerzu perfekte Möglichkeit, darauf Streitigkeiten aufzubauen. Doch bevor er die Drohungen, die sich in seinen Augen spiegeln, wahr machen kann betritt Mom das Haus. Sie stürmt wohl eher. Aufgebracht und völlig außer sich gestikuliert sie mit ihren Händen in der Luft herum und atmet erleichtert auf als Joshua die Sicht zu mir ermöglicht und sie feststellt, dass ich noch existiere. Die begonnene Diskussion ist auf der Stelle beendet und auch die Stimmung kühlt augenblicklich ab, während Mom sich Jacke und Schuhen entledigt und berichtet, von meiner Lehrerin angerufen worden zu sein. Sie habe sich Sorgen um mich gemacht und wollte sicher gehen, dass ich ihr die Wahrheit erzählt habe. Zu gut für diese Welt, diese Frau. Ob man ihr jemals das Herz gebrochen hat? So richtig meine ich. Zerbrochen und zersplittert in der Ecke eines Parkplatzes zurückgelassen. Wohl kaum. Anders kann ich mir ihren Sinn für Empathie und dem Guten der Menschheit nicht erklären. „Alles gut gegangen." Knurre ich ihr mürrisch entgegen als sie mich in den Arm nehmen will. „Das hätte ich gern vor zwei Stunden gewusst als ich dich unzählige Male angerufen habe." Besorgt und gleichzeitig ermahnend sieht sie mich an. Ich zucke nur mit den Schultern und murmle etwas von, nie kann man es einem recht machen und widme mich dem Decken des Tisches. Die Stimmung beim Essen ist durchwachsen. Zumindest immer dann, wenn Joshua mich einen Augenblick zu lang ansieht und ich ihn finster davon in Kenntnis setze. Mom scheint davon nicht viel zu bemerken. Sie erzählt fröhlich von ihrem Tag und lauscht dann Jayden und Ethan, die ebenfalls von ihren Erlebnissen berichten. Joshua lehnt es ab, etwas zu sagen. Ebenso wie ich. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ich nie etwas erzähle und Joshua sich durchaus an Gesprächen beteiligt. Ich bin mir sicher, dass er Mom alles erzählen wird. In einem ruhigen Moment versteht sich. Um keinen Gegenwind zu befürchten. Ich werde es nicht tun. Sie würde es ohnehin in Relation zu seiner Geschichte setzen oder, was besser klingt aber nicht besser ist, sich mit ihm streiten, weil sie meine Meinung teilt. Es gab mal eine Zeit, in der habe ich gedacht, dass das die Lösung sei. Darüber reden und es ihr überlassen, mit Joshua in einen Konflikt zu treten. Doch sieh uns an. Heute reden wir kaum noch miteinander. Es hat also alles bewirkt außer ein zueinanderfinden. Es ist wie die Bekämpfung eines Symptoms. Die Ursache unbegründet zu lassen, bringt niemanden weiter. Irgendwann bricht es erneut aus. Warum wir uns auseinandergelebt haben? Tja, zur falschen Zeit am falschen Ort, möge man meinen. Naja, Ethan meint das. Der Abschied, die Morde, der Tod. All das ging an niemanden von uns spurlos vorbei. Und wenn ich ehrlich bin, bin ich nicht sonderlich cool damit umgegangen. Eigentlich habe ich nichts anderes getan als geweint. Joshua hingegen stand zwischen Wut und Erleichterung. Wir haben um unterschiedliche Dinge getrauert. Waren an verschiedenen Punkten an die Wände gekettet und mussten uns zurechtfinden. Und irgendwann, ja irgendwann ist das Fass nun einmal übergelaufen und man hat sich auf dem falschen Fuß erwischt. Immer und immer wieder. „Ich räume ab." Erkläre ich Mom als diese aufsteht. Dankend lächelt sie mir zu, streicht mir über den Arm und verspricht, noch vor dem Zubettgehen bei mir vorbeizuschauen. Ethan steht mir zur Seite, während Jayden und Joshua sich in Windeseile davon machen. „Du hast dich gut geschlagen." Widmet Ethan sich mir als ich ihm die Teller zum Einräumen in den Geschirrspüler reiche. „Ich habe mich bemüht." Gebe ich eine kurzangebundene Antwort und er versteht wieder einmal, die Botschaft zwischen den Zeilen. Kein Interesse an einer Konversation. Und so bringen wir Küche und Esszimmer schweigend auf Vordermann, ehe wir uns einen highfive geben und in unterschiedliche Richtungen verschwinden.
In meinem Zimmer angekommen widme ich mich kurzerhand den noch zu erledigenden Hausaufgaben und verschwinde dann ins Bad. Zu meinem Glück treffe ich an diesem Abend kein weiteres Mal auf Joshua. Stattdessen begegne ich Mom auf dem Flur und wir machen es uns mit einem Haufen Kissen und Decken auf meinem Bett gemütlich. „Wollen wir über heute reden? Oder lieber über Morgen?" Dankend lehne ich ihren ersten Vorschlag ab. „Morgen hast du wieder Literatur Kurs, oder?" Ich verdrehe die Augen, nicke jedoch um ihre Frage zu beantworten. Eine Frage, die ein ganz bestimmtes Ziel verfolgt. „Wie wäre es, wenn ihr euch mal verabredet? Ich denke, ihr könntet gute Freunde werden." Ich zucke mit den Schultern. Lasse ihre gut gemeinten Ratschläge an mir abprallen, doch denke dennoch darüber nach. Zugeben würde ich es ihr gegenüber nur nie. „Ich halte dir auch die anderen vom Hals." Sie kichert und ich bringe es nicht übers Herz, ihr weiterhin kalt zu begegnen, weshalb ich ihr ein dankendes Lächeln schenke. Mehr als das bekommt sie von mir ohnehin nie. Es reicht also vollkommen aus, um ihr ein gutes Gefühl zu vermitteln. Alles eine Frage der Perspektive und Erwartung. Und die Erwartung an mich sind in den letzten Jahren beinahe auf null gesunken. „Denk mal darüber nach und bring sie mit." Mom zwinkert mir zu und schließt das Thema Liz damit ab. Warum habe ich ihr noch einmal von diesem Mädchen erzählt? Ach ja. Das hat sie selbst getan als Mom mich von der Schule abgeholt hat. Die darauffolgenden Stunden waren auf dem Gipfel der Peinlichkeit. Am Abend bin ich dann eingeknickt und habe ihr davon erzählt. Dabei gibt es da nicht einmal etwas Spannendes zu berichten. Wir gehen beide in den gleichen Literatur Kurs. Naja, in den Ohren einer Mutter hört sich das vermutlich wie ein kleiner Funken Hoffnung an. Schließlich ist Liz die einzige, von der ich jemals erzählt habe. Mom glaubt vermutlich, dass ich keine Freunde habe. Naja, was auch stimmt. Liz ist die Einzige, die mit mir redet. „Ethan fährt dich morgen früh zur Schule. Ich muss leider wieder früher zur Arbeit." Ich nicke und halte ihrem fragenden Blick stand, der mich gleich darauf streift. Sie hat eine perfekte Vorlage für die heutige Abholsituation angefertigt. Doch ich gehe nicht darauf ein. Die Ernüchterung in ihren Augen wahrnehmend, nehme ich sie in den Arm und wünsche ihr eine gute Nacht. Eine hoffentlich lange Nacht. Allein der Gedanke ans Aufstehen bereitet mir schon Bauchschmerzen. Doch damit beschäftige ich mich besser morgen. Schließlich lebe ich mit dieser Einstellung nicht erst seit gestern und habe gelernt, es auszuhalten. Irgendwie.
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The Alpha And Me -Death Note-
Hombres LoboViele Jahre sind vergangen, seit Cash und Zachary das Rudel verlassen haben. Jeder Einzelne geht anders mit den Ereignissen der Vergangenheit um, was an dem einen oder anderen nicht spurlos vorbei geht. Vor allem nicht dann, wenn die Vergangenheit...