Ich strecke mich ausgiebig, ehe ich blinzelnd aus dem Fenster sehe und feststelle, dass bereits reges Treiben herrscht. Gähnend reibe ich mir die Augen und schaue auf die Uhr. Ich habe länger geschlafen als sonst. Dennoch wundert es mich, so viele Stimmen wahrzunehmen. Normalerweise sind die anderen um die Zeit noch missmutig auf dem Weg ins Bad. Ich wähle Logans Nummer, welcher bereits am Vorabend um Rückruf gebeten hatte, und gehe seelenruhig meiner Morgenroutine nach. Eine erleichternde Erkenntnis, wenn man bedenkt, dass ich bis vor wenigen Tagen meine Augen und Ohren überall haben musste. Scheinbar haben sich die Wogen tatsächlich geglättet und so mache ich mir auch keine weiteren Sorgen als ich Joshua und Zachary in einem Raum höre. „Du Schlafmütze. Ich warte seit Stunden auf deinen Anruf." Brummt Logan, der seiner Stimmfarbe nach zu urteilen noch im Bett liegt. Kichernd erkläre ich ihm, dass ich auf der Stelle eingeschlafen bin als ich mich ins Bett gelegt habe, und ziehe mir Jeans und Hoodie über. „Eigentlich wollte ich auch nur fragen, ob du den Titel des Buches kennst, von dem deine Omimi ihre Geschichten hat." Ich schüttle den Kopf und muss über mich selbst lachen. Von einer Geste hat Logan schließlich am anderen Ende des Hörers genau gar nichts. „Ich hatte gehofft, sie spricht von den Exemplaren, die sie mir damals vermacht hat." Entgegne ich und stecke mir die Zahnbürste zwischen die Zähne. „Hast du nicht alle gelesen?" Ich verneine. Es mag unlogisch erscheinen, sie noch nicht ausgegraben und durchforstet zu haben. Doch ich habe es noch nicht übers Herz gebracht. Schließlich liegen sie an derselben Stelle wie die Familienfotos und erinnern mich einmal mehr an den schwersten Moment meines Lebens. Omimi hat mir ihre liebsten Exemplare nur wenige Tage später übergeben. Ich hatte keine Kraft, sie zu lesen. Nicht einmal eine Seite las ich in all den Jahren. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an damals. „Ich hatte damit gerechnet, dass es keine weiteren Legenden gibt als die, die wir in deinen vier Wänden gefunden haben." Erkläre ich, wenn auch kleinlaut. Höre ich sein Seufzen doch mehr als deutlich hervortreten. Doch er weiß nicht, wie es ist. All diesen Erinnerungen wieder zu begegnen und aushalten zu müssen. „Ich werde sie dir bringen." Setze ich fort und bekomme ohne Umschweife eine zufriedene Zustimmung. Es ist immerhin ein Kompromiss. Ich muss sie bloß finden und zu ihm bringen. Mich nicht weiter mit ihnen beschäftigen. Ich verspreche, mich schnellstmöglich darum zu kümmern und lege auf. Widme mich verschlafen dem Zähne putzen und hinterfrage unsere Recherche. Frage mich, wie viel Wolf tatsächlich in ihnen steckt. Ob es nicht die gefährliche Mischung ist, die sie unberechenbar macht. Ich denke darüber nach, wie wahrscheinlich es ist, dass sie ihre Beherrschung verlieren. Schüttle erschüttert über mich selbst den Kopf. Sehe ich doch Bayan jeden Tag und würde niemals von ihm Böses erwarten. Er ist ein zurückhaltender, trauriger Junge. Nicht mehr und nicht weniger. Ein ganz normales Menschenkind, das seinen Platz im Leben sucht. Der seine erste Liebe erfährt und sich unter seinesgleichen Zurechtzufinden versucht. Vorsichtig klopft es an der Badezimmertür. Ich lege den Kamm beiseite, der mittlerweile meine Haare zu bändigen versucht und öffne. Zachary steht vor mir. Hält einen Moment inne. Mustert mich, ohne dabei darauf schließen zu lassen, was in ihm vorgeht. „Ich habe eine Zusage bekommen." Seine Augen funkeln stolz. Ja, es wird wohl stolz sein. Ihn noch immer nicht eindeutig lesen zu können, erschwert den Kontakt zu ihm sichtlich. Und doch glaube ich zu erkennen, dass er mir bloß eine gute Nachricht mitteilen will. „Das ist hervorragend!" Ich klatsche euphorisch in die Hände und komme mir dabei so lächerlich vor, dass ich ihn hastig umarme, um davon abzulenken. Er hält die Luft an. Genauso wie ich als ich begreife, was ich hier tue. Eilig weiche ich also zurück, fahre mir nervös durch die Haare und entschuldige mich. Doch er winkt ab. Lächelt bloß und erzählt mir etwas von seinem Arbeitsumfeld und Arbeitszeiten. Ich jedoch höre ihm gar nicht richtig zu. Ich stehe bloß da und frage mich, was das gerade war. Und warum es sich so vertraut angefühlt hat. Erst als er mit der Hand vor meinem Gesicht fuchtelt, nehme ich wieder am realen Leben teil und entschuldige mich erneut. Dieses Mal für meine fehlende Aufmerksamkeit. Doch auch das scheint ihn nicht weiter zu stören und so stolziert er breit grinsend davon. Ich schaue ihm nach. Frage mich, ob es verwerflich ist. Schließlich fasst er nun endgültig Fuß an diesem Ort. Könnte er doch spätestens jetzt ausziehen. Doch statt diese Tatsache in Erwägung zu ziehen, denke ich über die Umarmung nach. Seine Nähe. Als er in seinem Zimmer verschwindet, wende ich meinen Blick ab und starre direkt in die kritischen Augen von Bayan, der vor mir steht und meinen schwächsten Moment des Tages live und in Farbe mitverfolgt hat. „Können wir dann fahren?" Brummt er. Missmutig, wie am Morgen üblich. Eifrig nicke ich, hole meine Tasche und folge ihm durch den Flur. „Ist Cash schon so weit?" Frage ich, noch immer in Gedanken und trotte ihm nach, die Treppen hinunter. „Fährt er mit uns?" Das Brummen entwickelt sich zu einem Knurren und als ich nicke, hat Bayan nichts weiter als einen finsteren Blick für mich übrig. Teenager muss man mal verstehen. Vor wenigen Tagen war noch alles gut und die Beiden unzertrennlich und jetzt können sie nicht einmal gemeinsam in einem Auto sitzen? Wohl kaum. Als sich rausstellt, dass Joshua ihn ansonsten zur Schule fahren könnte, nimmt er sein Schicksal entgegen und stapft mit Cash und mir zum Auto. Ohne jedoch auch nur einen Blick oder Wort an uns zu verlieren. Es wird Zeit, dass sich die beiden wieder vertragen. Selbst Joshua und Zachary scheinen miteinander existieren zu können. Auch wenn ich dem Frieden nur in gewissen Grundzügen traue, so habe ich keine Sorge dabei, das Haus zu verlassen und die Beiden zurückzulassen. Da sollte es doch wohl möglich sein zwei streitende Teenies zu besänftigen.
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The Alpha And Me -Death Note-
WerwolfViele Jahre sind vergangen, seit Cash und Zachary das Rudel verlassen haben. Jeder Einzelne geht anders mit den Ereignissen der Vergangenheit um, was an dem einen oder anderen nicht spurlos vorbei geht. Vor allem nicht dann, wenn die Vergangenheit...