„Das kannst du vergessen! Da bringen mich keine zehn Pferde rein!"
Ein vor Anstrengung erröteter Kopf lugte hinter dem ebenso roten Vorhang der Umkleidekabine hervor.
Genervt verdrehte ich die Augen und schnipste betont gelangweilt einen nicht vorhandenen Fussel von dem Samtsofa auf dem ich saß. Glücklicherweise gab es in dieser Boutique Sitzmöglichkeiten für die vom ewigen Warten völlig erschöpften Kunden, wie mich.„Ruby. Du sollst dieses Kleid doch nur einmal anprobieren. Wir sind seit verdammten zwei Stunden in diesem Laden und sogar die Verkäuferin ist nach dem sechsten Kleid unter dem Vorwand uns etwas zu trinken zu holen geflüchtet. Also bitte zieh es einfach an!"
Ohne, dass ich es gemerkt oder gewollt hätte wurde meine Stimme zum Ende hin immer lauter und flehender. Wenn Flehen überhaupt das passende Wort war.Ich war verzweifelt.
Meine beste Freundin aka das Mädchen-welches-Kleider-hasst-aber-unbedingt-eins-auf-der-Hochzeit-ihres-Bruders-anziehen-wollte, suchte seit geschlagenen vier Stunden nach einem knielangen dunkelblauen Kleid. Mittlerweile waren wir im fünften Laden angekommen und das Problem war nicht, dass es keine Kleider in dieser Farbe oder Länge gab, sondern, dass sie immer irgendetwas an ihnen auszusetzen hatte. Entweder war das Kleid zu kurz, betonte ihr Dekolleté zu wenig - im schlimmsten Fall gar nicht - oder ließ ihre Knie knubbelig wirken.
„Sie hat uns aber nichts zu trinken gebracht", überlegte Ruby laut und begann ihre Füße von den silbernen Pumps, welche wir glücklicherweise schon vor Wochen im Sonderangebot bei Macy's ergattert hatten, zu befreien.
Mit einem lauten Seufzer ließ ich mich tief in die weichen Polster sinken und schloss die Augen. Instinktiv fragte ich mich wie ich diese Shopping-Qual ohne Sitzmöglichkeit überleben würde. Die Antwort war einfach. Gar nicht.„Ich sagte ja auch, dass sie es als Vorwand genutzt hat um dir und deiner Unentschlossenheit zu entkommen."
„Diese Hacken werden mich noch umbringen", klagte Ruby ohne dem plötzlichen Themenwechsel besondere Beachtung zu schenken. Sie zog ihre Füße nah an ihren Körper heran und fing an diese zu massieren.
„Vielleicht sollte ich doch kein Kleid kaufen, sondern einfach den Hosenanzug von Onkel Pauls Beerdigung aus dem Schrank kramen."
Ich schloss erneut die Augen und atmete tief ein und wieder aus. Das konnte sie jetzt wohl unmöglich ernst meinen.„Du wirst dir jetzt ein Kleid kaufen! Und wenn es das letzte ist was du tust. Ich habe nicht Stunden meiner kostbaren Lebenszeit umsonst verschwendet." Abrupt sprang ich von meiner komfortablen Sitzgelegenheit auf, schnappte mir Rubys Handgelenk und zog sie in die Umkleidekabine.
Mit Händen und Füßen versuchte sie mich von sich wegzuschieben, doch ehe sie sich versah hatte ich ihr das blaue Kleid aus und ein anderes in derselben Farbe übergezogen.
„So, jetzt hast du es schon halb an."
Zufrieden grinste ich und strich mir eine hellbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. Meine beste Freundin hingegen sah alles andere als zufrieden aus.
Ihr Haar stand zu Berge, das Gesicht noch eine Nuance näher am Rot einer Tomate, als es ohnehin schon war und das Kleid wand sich wie eine Würgeschlange um ihren Hals.
„Los! Streck die Arme durch, zieh es runter und komm dann raus."Vorsichtig schlüpfte ich durch einen kleinen Spalt des purpurroten Vorhangs um den halbnackten Körper meiner Freundin vor neugierigen Blicken zu wahren.
Ich musste mir ein Kichern verkneifen, als ich die Hasstiraden hinter dem Vorhang wahrnahm. Da setzt man sich für seine Freunde ein und was ist der Dank?So aufopferungsvoll ich auch war, wollte ich dennoch schnellstmöglich wieder meinen vorgewärmten Platz auf dem gemütlichen Sofa einnehmen. Als ich mich also noch einmal vergewisserte, dass der Vorhang auch wirklich keine noch so kleine Lücke aufwies, drehte ich mich um und trat einen Schritt auf das Sofa zu.
Doch mein Platz war vergeben. Frustriert schnaubte ich auf. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Auch wenn mein Glaube an Gott sich eher in Grenzen hielt, war ich spätestens in diesem Moment fest davon überzeugt, dass irgendeine übernatürliche Macht mir diesen Tag gehörig vermiesen wollte. Stundenlanges Einkaufen - dabei stetig dem Jammern einer überforderten 19-jährigen ausgeliefert -, dann für wohltuende 20 Minuten sitzen, drei Minuten mit eben dieser 19-Jährigen einen Kampf um ein Kleid ausfechten und genau in diesen drei Minuten erscheint jemand der sich genau auf meinen Platz setzt? Das konnte nur auf eine übernatürliche Macht zurückzuführen sein.

DU LIEST GERADE
The Silent Side of Love
RomansEin neuer Lebensabschnitt kann ziemlich herausfordernd sein, besonders wenn man plötzlich ohne langjährige beste Freundin dasteht und stattdessen mit einer großen Portion Angst und unbekannten Gefühlen jonglieren muss. Für die leidenschaftliche Tänz...