51. Kapitel

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Der Spiegel war ein erbarmungsloser Verfolger. Er verfolgte mich täglich und erinnerte mich mit jedem einzelnen Blick, in ihn, an alles.
Jeden Tag sah ich mein Gesicht, meine Augen, die untermalt von dunklen Ringen waren und den Schlafmangel widerspiegelten.

Ich sah eine fremde Person. Eine Person, die nichts weiter war als eine Hülle ihrer selbst. Diese Hülle starrte mich jeden Tag aus dem Spiegel an. Ich drehte mich um, entfloh dem Spiegel und griff nach meinem T-Shirt. Kraftlos hob ich meine Arme, zog den Stoff über meinen Körper, bis das T-Shirt zu Boden fiel.

Neben das T-Shirt fielen die graue Jogginghose und meine Unterwäsche. Ich stieg über den Stoffhaufen hinweg in die Dusche. Kaltes Wasser traf auf meine Haut und mich erzittern, doch ich zuckte nicht vor dem Wasserstrahl zurück, sondern drehte das Wasser noch kälter, bis ich nichts mehr spürte außer das betäubende Kribbeln meiner Haut.

Meine Haut war bereits rötlich vom Wasser, als ich es abdrehte, um Shampoo in meine Haare zu geben. Der Schaum lief über mein Gesicht und brannte in meinen Augen. Schnell spülte ich den Schaum aus meinen Haaren und Augen aus, bevor ich einen Blick auf die Flasche warf.

Drei in eins Shampoo. Wer hätte es nicht gedacht? Kein Wunder, das es in den Augen brannte, wie Wodka auf der Haut.

Das erklärt immerhin, warum es in diesem Bad nur ein einziges Produkt gab, außer Seife. Wahrscheinlich hätte ich mir allein schon wegen des Waschens meiner Haare mit diesem Shampoo, einen Anwalt nehmen müssen. Ich wollte gar nicht wissen wie meine Haare trocken aussehen würden nach diesem Shampoo. Eins war klar, gut auf jeden Fall nicht.

Kopfschüttelnd drehte ich den Wasserhahn wieder zu.

»Es ist nach zwölf, Ella.«

Ich zuckte zusammen, bei der Stimme, bei den Worten. Diese Worte hatte ich schon einmal gehört. Und wohin hatten sie mich gebracht?

Wie versteinert stand ich da, nicht in der Lage mich zu bewegen. Nicht in der Lage, meinen Blick von den weißen Fliesen, der Dusche, zu nehmen.

Ich hörte Schritte. Seine Schritte, die näher kamen, bis sie direkt vor der milchigen Duschwand stehen blieben, nur zwei Schritte von mir entfernt. Jedes Härchen auf meiner Haut stellte sich auf. Ich wollte um Hilfe schreien, aber als ich meinen Mund öffnete, ertönte kein einziger Laut.

»Entweder du kommst raus oder ich komme zu dir. Und Ella, denk ja nicht, du könntest jemals wieder vor mir fliehen.«

Seine Stimme war kalt, gab keine seiner Gefühle preis, sondern war ein reiner Befehl. Ich wollte mich bewegen, doch jeder Muskel war wie versteinert. Er war hier, in diesem Raum, hinter mir.
Hatte er mich nicht genug verletzt, musste er mich so demütigen? Mich immer weiter demütigen, nur um die größtmögliche Befriedigung in meinem Schmerz zu finden?

»Du hast es so gewollt.«

Mir blieb gar nicht die Zeit zu realisieren, was er tat, denn schon im nächsten Moment öffnete er die Tür und stand direkt hinter mir in der Dusche.

Warme Hände packten meine Taille, vergruben sich in meiner Haut und drehten mich mühelos zu ihm um. Ich stemmte mich seinen Griff entgegen, aber es war zwecklos gegen jemand soviel stärkeren.

Zum ersten Mal seit diesem Tag sah ich ihn wieder.

Die schwarzen Haare hingen in seine Stirn und unter dem Kragen seines T-Shirts trat ein schwarzes Tattoo zum Vorschein.
Sein Gesicht, seine Augen, diese Lippen, es war zu viel.

Auf einen Schlag kam alles zurück. Alle Erlebnisse und damit auch der Hass, auf ihn. Ich konnte nicht mehr so tun, als wäre nichts passiert, als hätte er mich nicht verraten und meine Schwester ermordet.

Lontano. Bis wir uns wiedersehen.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt