Kapitel 1 "Spiegelgestalten"

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Da war sie wieder. Keine Stimme in meinem Kopf, keine dumpfe Vorahnung, aber genauso unreal. Manchmal wünschte ich mir, es wäre eines der beiden. Das wäre immer noch besser, als sie für etwas Echtes halten zu müssen.

Und mir blieb wohl nichts anderes übrig. Jeder konnte sich so etwas einbilden, das stellte ich nicht in Frage. Trotzdem war sie da. Das Mädchen in meinem Spiegel. Sie tauchte immer dann auf, wenn ich es am wenigsten erwartete. Allerdings schien sie in jedem beliebigen Spiegel auftauchen zu können.

Dabei befolgte sie keinerlei Regeln, weder zeitlich, noch physikalisch. Einmal war sie kopfüber erschienen. Ich hatte das Glas zertrümmert, aber das hatte sie nicht vertrieben. Stattdessen war ihr Bild in jeder einzelnen Scherbe gefangen gewesen. Ich hatte sie nicht mehr anschauen können. Was auch immer diese Erscheinung zu bedeuten hatte, ich wollte es nicht wissen.

Sollte sie ein Geist sein, dann sollte sie gefälligst endlich ins Jenseits verschwinden. Aber sie blieb. Sie war inzwischen schon fast zwei Jahre bei mir und genauso lange hielt ich mich schon von Spiegeln fern. Meistens war es ein ganz normales Spiegelbild, das mir entgegenblickte. Aber nicht immer und es machte mir Angst.

Obwohl sie mir noch nie etwas getan hatte, geschweige denn irgendwelche Anzeichen dafür zu geben, dass sie mich überhaupt wahrnahm, wäre ich sie gerne los. Außer mir sah sie niemand. Wollte sie nicht sehen, konnte sie nicht sehen, sollte sie nicht sehen. Ich wusste es nicht. Doch sie blieb bei mir. Selbst wenn sie nicht zu sehen war, bildete ich mir ein, dass sie mich beobachtete. Wahrscheinlich spielte sich das alles nur in meinem Kopf ab.

Ich meine: Hallo? Ein Mädchen im Spiegel, das ich noch nie gesehen hatte und das nach Lust und Laune einfach so auftauchte? Das war verrückt. Mehr als das, es war krank. Und vielleicht war ich krank, aber es blieb dabei; sie kam mir echt vor. Soweit ein Spiegelbild überhaupt echt sein konnte. Es war immerhin nur ein Bild. Und normalerweise waren Bilder nichts weiter als Kunst.

Aber sie, sie war anders. In der ganzen Zeit hatte sich ihr Gesichtsausdruck nicht ein einziges Mal verändert. Nur ihre Augen folgten mir stetig. Sie waren so dunkel wie die Nacht, genau wie ihre Haare und ihre Haut. Zu Beginn ihres Erscheinens, nachdem ich mich tagelang nicht in die Nähe einer spiegelnden Oberfläche getraut hatte, war ich sicher gewesen, sie hätte gar keine Iris. Nur riesige Pupillen. Aber ich hatte den Gedanken verworfen.

Mal abgesehen davon, dass sie nicht real sein konnte, war sie ziemlich menschlich. Ich hatte gedacht, sie wäre ein blöder Streich, doch dann kam sie immer wieder, auch wenn niemand in meiner Nähe war. Was auch immer sie also war, sie verließ mich nicht. Wie ein Schatten, der eigentlich gar nicht meiner war und sich nur verirrt hatte.

Mein Leben ging auch mit ihr weiter und man gewöhnte sich selbst an die außergewöhnlichsten Dinge. Auch wenn ich nie aufhörte, mich zu fragen, woher die Erscheinung eigentlich kam.

.-.-.-.

Seit wir berühmt geworden waren, gab es kaum einen Platz, den wir noch unerkannt betreten konnten. Es gab immer irgendwo irgendwen, der uns erkannte. Aber das war der Preis für Berühmtheit, nicht alles daran war gut. Allein das Kreischen der Fans, war manchmal bloße geplante Körperverletzung.

Aber damit mussten wir leben, immerhin erkannten sie unsere Arbeit an und nur dank ihnen konnten wir machen, was wir liebten. „Was hättet ihr denn gerne für ein Eis?", fragte eine Bedienung. Sie war jung, vermutlich kaum 16. Ihr Kleidungsstil unter der Schürze glich dem unserer meisten Fans. Zumindest war sie keiner. Wir hatten schon drei Autogramme gegeben, seit wir hier waren und sie hatte nicht zu den Leuten gehört, die uns schief angesehen hatten.

Jetzt hatten wir allerdings endlich Zeit, wofür wir eigentlich hergekommen waren. Wir gingen selten in Eisdielen, aber wenn wir es einmal taten, dann immer alle zusammen. Einzeln würden wir vermutlich weniger auffallen, aber es macht auch nur halb so viel Spaß. Aus den Augenwinkeln sah ich mein Spiegelbild in einem Eisbecher.

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt