Kapitel 15 "Schattenfinder"

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Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, als ich aus dem Schlaf hochschreckte. Es war noch immer dunkel, das Zirpen der Grillen noch genauso nervtötend laut und der Stein unter mir inzwischen kalt. Ich hatte mir ein T-Shirt von Juvia unter den Kopf geklemmt, während sie auf einer Jogginghose schlief. Für einen Moment war ich orientierungslos, doch es dauerte nicht lange, bis ich wieder wusste, wo ich war. Ich konnte mich nicht mal daran erinnern, eingeschlafen zu sein.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich fragte, was mich denn eigentlich geweckt hatte. Langsam setze ich mich auf und lauschte, während ich mich vorsichtig umblickte. Da war Licht. Einige hundert Meter von hier aus entfernt, konnte ich das Leuchten hinter den Steinabhängen sehen. Dann bemerkte ich das leise Surren. Das da hinten könnte ein Kraftwerk sein. Und das Licht und das Surren konnten dann nur bedeuten, dass wir wieder Strom hatten!

Das wäre doch endlich mal eine gute Nachricht. Um ihr von meiner Entdeckung zu berichten, rüttelte ich Juvia leicht an der Schulter. Sie wurde praktisch sofort wach. Auf einem Stein schlief es sich offenbar nicht allzu tief. Sie rieb sich die Müdigkeit aus den Augen und gähnte ausgiebig, bevor sie mich ansah. „Was ist denn?", fragte sie und ihre Stimme klang tiefer als sonst. Mädchen hatten also auch eine Morgenstimme. Gut zu wissen. Ich deutete in die Richtung, aus der das Licht kam.

Erst nach einigen Sekunden verstand sie, was das zu bedeuten hatte. Aufgeregt sah sie wieder mich an: „Heißt das, dass wir wieder Strom haben?" Ich nickte lächelnd, doch da war sie schon aufgestanden, um näher hinzugehen. Sie kam in der Dunkelheit nicht weit, bevor sie über einen Stein stolperte und auf den Knien landete. Ihre Silhouette verschmolz für einen Moment mit dem Boden, bevor sie sich wieder aufrappelte. Dann humpelte sie zurück. „Autsch", sagte sie, „das tat weh. Ach was rede ich denn da? Es tut immer noch weh!"

Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, doch zum Glück konnte sie das ohnehin nicht sehen. „Es blutet sogar", stellte sie fest, nachdem sie sich wieder auf den Stein gesetzt hatte, um ihre Knie zu untersuchen. „Willst du es auswaschen?" Eine infizierte Wunde war nicht unbedingt das, was wir jetzt gebrauchen konnten. Andererseits hatten wir auch keine Unmengen an Wasser, die wir einfach so leichtfertig benutzen konnten. Juvia schien ähnlich zu denken, denn sie knirschte mit den Zähnen und murmelte irgendetwas Unverständliches.

Schließlich schien sie sich aber endlich entschieden zu haben. „Ich nehme auch nicht viel", versprach sie leise und ich wusste nicht, ob sie es für sich selbst, oder für mich sagte. Langsam, damit ich nicht auch noch über einen Stein stolperte, ging ich zum Wagen. Ich hatte ihn gestern nicht abgeschlossen, hier war ja schließlich auch weit und breit niemand, der ihn mir klauen könnte. Wasser hatten wir im Kofferraum und so öffnete ich ihn, auf der Suche nach einer Flasche.

Es dauerte auch nicht lange, bis ich endlich eine ertastet hatte. „Bin schon auf dem Weg", rief ich Juvia zu, als ich zurückkam. Sie seufzte: „Na endlich. Du bist ja langsamer als jede Schnecke." Ich stieß geringschätzig die Luft aus. „Ts, na vielen Dank auch. Du darfst der Hulk sein, und ich nur eine lahme Schnecke? Was sind meine Superkräfte?" „Du bist schleimig und Bösewichte rutschen immerzu auf dir aus. Das ist doch ganz cool."

Sie klang nicht so, als würde sie es ernst meinen. „Ich bin cool", stimmte ich ihr dennoch zu. „Und schleimig", fügte Juvia noch an, bevor sie mir die Wasserflasche aus der Hand riss. Obwohl sie es nicht sehen konnte, zog ich die Augenbrauen nach oben: „Ich hab in den Jahren ja schon viele Komplimente und auch Kritik bekommen, aber schleimig war noch nie dabei." „Da siehst du mal. Niemand würde ja darauf kommen, dass du ein Superheld mit Schneckenkräften bist. Sei stolz drauf."

„Wenigstens bin ich nicht grün", murmelte ich trotzig und sie lachte über meinen Kommentar. Bevor ich schon wieder darüber nachdenken konnte, wie schön ich ihr Lachen fand, fragte ich schnell danach, wie es ihren Knien ging. „Brennt noch, aber ich werde nicht daran sterben, keine Sorge." „Ist das einer dieser berühmten letzten Sätze?" „Nein, ich glaub nicht." „Aber es könnte ja einer werden." Ich ließ mich neben ihr sinken und erschauerte bei dem Kontakt mit dem kalten Stein. Allmählich wurde der Himmel heller.

„Ist es echt schon wieder so früh?", fragte ich verblüfft. Es fühlte sich an, als hätte ich keine Minute lang geschlafen. Ganz zu schweigen davon, wie sich mein Körper anfühlte. Steif wie ein Knochen. Meine Schulterblätter schmerzten bei jeder kleinen Bewegung. „Wahrscheinlich schon. Sag mal, tut dir auch alles weh?" Sie hatte offenbar dasselbe gedacht wie ich. „Ja", nickte ich, „fühlt sich an wie der schlimmste Muskelkater, den es je gab." Juvia klopfte mir auf die Schulter: „Ich fühle mit dir."

„Warum genau haben wir eigentlich auf einem Stein geschlafen? Wir hätten auch ins Auto gehen können, dann hätten wir das Problem jetzt nicht." Ich verzog das Gesicht, als ich meine Beine dehnte, indem ich einfach die Zehenspitzen so nah an mein Schienbein brachte, wie möglich. „Die Aussicht war es wert." Sie zeigte in den Himmel, wo noch immer das Sternenband leuchtete, das den Blick so sehr gefangen hielt. „Stimmt", gab ich zu. Während miteinander redeten, wurde der Horizont immer heller, bis er in ein sattes Pink getaucht war, das kurz darauf in Orange überging.

Es ging schnell, schneller als ich erwartet hätte und schon bald tauchte die Sonne hinter einem der Hügel auf. Das Licht warf lange Schatten, die über den Boden tasteten, als suchten sie einander. Sonnenaufgänge sollten romantisch sein, aber hier waren sie das nicht. Ein neuer Tag war angebrochen und ich würde ihn wahrscheinlich genauso verbringen, wie den gestrigen. Wie lange wir wohl brauchen würden, bis wir unsere Familien gefunden hatten? Es könnte ewig dauern.

„So, und jetzt sollten wir uns endlich ansehen, was hinter dem Abhang liegt", bestimmte Juvia und ich widersprach ihr nicht. Zum einen war ich selbst ebenfalls neugierig und zum anderen wusste ich, dass sie ohnehin nicht umzustimmen wäre. Gemeinsam erhoben wir uns. Die schwarzen Locken wehten im Wind, wie ein Sturm aus Raben. Umständlich strich Juvia sie sich aus dem Gesicht und knotete sie mit einem Haargummi zusammen.

Das hielt ihre Haare allerdings nicht lange auf. Geduldig wartete ich, bis sie sie endlich gebändigt hatte. „Deine Haare sind echt schlimmer als jede Löwenmähne." „Ich weiß", stimmte sie mir seufzend zu und dabei war die Resignation in ihrer Stimme unüberhörbar. „Sei doch froh, meine Schwester wäre neidisch auf dein Volumen." Sie kicherte: „Typisch Mädchen. Nicole würde liebend gerne mit mir tauschen, aber man kann sich eben nicht aussuchen, wie man aussieht."

Einige Sekunden später merkte sie, dass sich das so anhörte, als fände sie ihre eigene Freundin hässlich. „Nicht, dass sie nicht hübsch ist. Im Gegenteil. Das klang jetzt echt doof." „Ich werde es ihr schon nicht erzählen. Außerdem weiß ich ja gar nicht, wie sie aussieht. Ich kenn sie ja nicht mal." „Sie weiß genau, dass sie hübsch ist. Du bräuchtest auch gar nicht versuchen, es ihr einzureden. Es gibt niemanden, mit so einer großen Klappe und diesem Selbstbewusstsein. Sie würde sich nie für etwas schämen", beschrieb Juvia ihre beste Freundin.

Sie klang nach jemandem, mit dem man viel Spaß haben konnte. Aber in letzter Zeit klang alles gut, das normal war. Anstatt auf eine Antwort zu warten, lief Juvia einfach los. Sie humpelte ein bisschen, weil der Schorf an ihrem Knie sich sonst spannte. Aber sie beschwerte sich kein einziges Mal. Selbst als wir eine Felswand hinunterklettern mussten, sagte sie nichts. Dabei sah ich genau, wie sie sich mehrfach an Vorsprüngen anschlug und dabei das Gesicht verzog. Man konnte wirklich nicht sagen, dass sie ein Jammerlappen war.

Eher das Gegenteil. Als wir endlich unten ankamen, war es so hell geworden, dass das Licht nicht mehr zu erkennen war, falls es denn überhaupt noch leuchtete. Ich war mir nicht mehr sicher, in welche Richtung wir weitermussten, aber das hätte ich nie zugegeben. Auch ich hatte meinen Stolz. Wir umgingen einen zerklüfteten Hang, stiegen wieder einige Meter nach oben und erreichten ein natürliches Plateau.

Von hier aus konnte man im Osten den silbernen Wagen sehen, der in der Sonne glitzerte. Auf der anderen Seite, also Richtung Westen, lag ein tiefes Tal. Das Licht erreichte den Boden noch nicht, das Tal wirkte, wie ein ausgetrockneter See. Und mittendrin stand ein Haus. Zumindest nahm ich an, das es eines war, denn es nicht wirklich so aus. Eher wie ein riesiger Golfball, den man zur Hälfte in der Erde eingebuddelt hatte. „Was ist das denn?", fragte Juvia.

Ich musste zugeben, dass ich keine Ahnung hatte. Nicht den blassesten Schimmer. „Sieht aus wie ein gelandetes Ufo." „Quatsch, das ist ein Golfball", widersprach ich. Juvia legte den Kopf schief: „Nein, sieht immer noch aus wie ein Ufo." Ich zuckte nur mit den Schultern, weil ich keine Lust darauf hatte, diese Diskussion weiter zu führen. „Von hier oben werden wir es wohl kaum herausfinden", sagte ich und machte mich an den Abstieg.

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt