Kapitel 49 "Totenwache"

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Wir warteten an den noch lauwarmen Stein gepresst in der Dunkelheit. Nichts regte sich, nicht einmal ein Lüftchen, als hielte die Nacht den Atem an. Und dann hörte ich die Schritte, die sich unzweifelhaft unserem Versteck näherten. Falls jemand den natürlichen Gang, der über Jahrtausende von einem Bach in den Fels getrieben worden sein musste, betrat, würde man uns sofort sehen.

Egal wie dicht wir uns an den Stein drückten, wir würden nicht damit verschmelzen. Ich lauschte über das laute Pochen meines Herzens auf die Schritte; sie klangen schwer und langsam, aber nicht vorsichtig. Als wüsste unser Verfolger nicht, dass noch jemand hier war. Ich war so vertieft darin, auf den Klang der Schritte zu lauschen, dass ich das langsame Kriechgeräusch erst spät wahrnahm.

Spontan hätte ich es einer Schlange zugeordnet, aber dafür war es zu laut. Die geschuppten Reptilien bewegten sich nahezu lautlos und das Kriechen war nicht unbedingt leise. Trotz meiner Anspannung, zwang ich mich, die Augen zu schließen.

Es widerstrebte meinen Instinkten, schließlich wollte ich den Angriff sehen, wenn er auf mich zu kam, aber nun wollte ich mich ganz auf das Geräusch konzentrieren. Das Schlängeln kam von irgendwo über uns, vermutlich befand sich jemand oder etwas auf einem der Steinklötze, die vernarbt von der Zersetzung von Wind und Wasser waren.

Die Erosion nagte an ihnen, aber die Steine leisteten jahrtausendelangen Widerstand. Ein leises Klicken ertönte und während ich noch überlegte, was es ausgelöst hatte, knallte es ohrenbetäubend. Ich zuckte zurück und schlug mir den Hinterkopf am Stein an, dann erreichte uns eine Hitzewelle, deren eigentliches Ausmaß sich nur erahnen ließ. Der Geruch von Feuer lag in der Luft und es stank entsetzlich nach verbranntem Haar.

Nach Luft ringend ging ich zu Boden und ordnete die blitzenden Lichter vor meinen Augen. Ich wartete, bis die Sterne wieder einzelne Punkte waren und kein Meer aus verlaufenden Farben und verwischten Flecken. Neben mir stöhnte Hadiya. Ich wusste, dass sie es war, weil sie undeutlich etwas murmelte, als ich nach ihrer Hand tastete.

Sie zitterte und krallte sich mit ihren Nägeln an meiner Handfläche fest, als hinge ihr Leben davon ab. Als sich der Rauch verzogen hatte, half Victoria mir auf. Meine Beine fühlten sich an wie die einer Puppe: Steif, aber instabil, sodass ich mich mehrfach an der Felswand abstützen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Gleichzeitig stütze ich Hadiya, um zu verhindern, dass sie ein zweites Mal stürzte.

Das Blut ihrer aufgeschürften Hände quoll mir zwischen die Finger und ich fragte mich, ob auch mein eigenes dabei war. Ich spürte nichts als Taubheit und auch wenn ich es sah, konnte ich nicht glauben, dass ich zitterte. Dreck war in meinen Mund gelangt und es knirschte, wenn meine Zähne zusammenschlugen. „Verhaltet euch ruhig", hörte ich Victoria sagen.

Ihre Stimme klang rau und als hätte sie sich ein Kissen vor den Mund gehalten. Wild nickte ich, ohne die Stärke meiner Bewegung beeinflussen zu können. Minutenlang –so kam es mir zumindest vor- standen wir still und der Boden hörte auf, unter mir zu schwanken. Ich hatte offenbar keine bleibenden Schäden davongetragen, und auch Hadiya wirkte in Anbetracht der Umstände halbwegs munter.

Sie rieb sich die Stirn und verteilte dabei das Blut, das an ihren Händen geklebt hatte auf ihrer dunklen Haut. Es sah aus wie eine makabere Kriegsbemalung und ließ das Mädchen noch älter wirken. Wir warteten lange.

„Sie wird nicht zurückkommen, oder?", fragte Juvias Schwester irgendwann, aber ich antwortete nicht. Hadiya kannte die Antwort genauso gut wie ich, doch keiner von uns wollte es aussprechen. Als die Sonne aufging und ich sie zum ersten Mal richtig sehen konnte, wurde mir erst das ganze Ausmaß der Explosion begreiflich.

Hadiyas Haare waren dreck- und blutverkrustet, ihre Kleidung starrte vor Schmutz und das getrocknete Blut auf ihrer Stirn blätterte ab wie billige Farbe. Nur ihr Blick war der alte, sonst war nichts an ihr wiederzuerkennen. Wahrscheinlich sah ich nicht viel besser aus, denn sie musterte mich erschrocken. Aber wir lebten noch.

Egal wie beschissen wir aussahen und egal wie dreckig wir waren, wir waren am Leben und das war es, was zählte. Mit der Helligkeit fühlte ich mich sofort sicherer, obwohl ich wusste, dass derjenige, der für die Explosion verantwortlich gewesen war, noch in der Nähe sein musste. Auch noch einer weiteren Stunde des Wartens kehrte Victoria nicht zurück, also machten wir uns auf die Suche.

Mit Steinen bewaffnet kletterten wir an einer Felswand hinauf und balancierten über die natürlichen Mauern, die die Flusspfade voneinander trennten. Wir fanden sie nicht und ein dumpfes Gefühl sagte mir, dass wir sie auch nicht finden konnten. Gerade als wir umkehren wollten, entdeckten wir sie. Inmitten einer roten Pfütze lag Victoria und rührte sich nicht mehr.

Ich senkte den Blick und nährte mich ihr, ohne sie direkt anzugucken. Sie war eindeutig tot. Schon bevor ich mich bückte, um nach ihrem Puls zu tasten, wusste ich, dass sie tot war. Ihre Haut war noch warm und so richtete ich mich hastig auf, strich das Blut, das von der Berührung an meinen Fingern klebte, an meiner Hose ab und lief los. „Wir müssen hier weg." Ich konnte zwar keine direkte Gefahr sehen, aber sie lag in der Luft wie ein billiges Frauenparfum. Ohne zu zögern packte ich Hadiya am Arm und zerrte sie hinter mir her.

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Das Auto war weg. Wir waren uns beide sicher, dass wir es hier abgestellt hatten, aber es war nicht mehr da. Erschöpft ließ ich mich auf den heißen Asphalt sinken, beschloss aber nach wenigen Sekunden, dass das nicht unbedingt eine meiner besten Ideen gewesen war und stand wieder auf. „Was machen wir jetzt?"

Resigniert rieb ich mir über die Stirn: „Ich hab keine Ahnung. Mir gehen langsam die Ideen aus." Ich war erschöpft. Wir hatten eine lange Nacht hinter uns, waren weit gelaufen und hatten uns auf dem Weg mehrmals verirrt. Es dämmerte bereits und ohne Auto saßen wir hier fest. Das durfte doch wirklich nicht wahr sein!

„Wir könnten hier warten, bis jemand vorbei kommt und fragen, ob er uns mitnimmt." Ich wusste, dass es kein ernstgemeinter Vorschlag war. Hadiya klang noch weniger überzeugt, als ich mich fühlte. „Bestimmt werden die irgendwelche Fremden mitnehmen. Aber erst mal müsste auf dieser Hauptverkehrsstraße, die ja total dicht befahren ist, überhaupt mal ein Wagen vorbeikommen. Wir würden Tage warten müssen, bis das der Fall wäre."

„Hast du eine bessere Idee?", fragte sie herausfordernd und das Augenbrauenpiercing zuckte. Nein, hatte ich nicht. Aber das musste ich ihr ja nicht auf die Nase binden, sind wir mal ehrlich, das Mädchen war eingebildet genug. Als ich nach einigen Minuten noch immer nichts gesagt hatte, schnaubte Hadiya abfällig: „Das hab ich mir gedacht."

Ich wollte schon zu einer schnippischen Bemerkung ansetzen, als aus der Ferne ein aufheulendes Motorengeräusch erklang. Trotz der Müdigkeit sprinteten wir sofort los. Das könnte für mehrere Tage unser einziges Ticket sein, um hier wegzukommen. Plötzlich verstummte das Brummen.

„Sie haben angehalten", flüsterte Hadiya und ich wusste, warum die euphorische Freude sich schlagartig in Bedrückung verwandelt hatte. Wenn jemand hier hielt, dann standen die Chancen schlecht für uns, dass er uns mitnehmen würde. Ich musste an Victorias leblosen Körper denken. Hatte ihr Mörder Verstärkung angefordert, damit er uns auch noch zur Strecke bringen konnte? Was machte das für einen Sinn? Warum sollte man uns tot sehen wollen?

Andererseits gab es auch keinen Grund dafür, warum man Vicky umbringen sollte. Hinter uns knackte etwas. Gleichzeitig wirbelten wir herum, bereit dazu, uns zu verteidigen, aber da war nichts. Nur lange Schatten, die durch das langsame Untergehen der Sonne immer gedehnter wurden, als würde man an Kaugummi ziehen.

Noch immer in Abwehrhaltung sahen wir uns um, doch es wirkte alles ruhig. Schließlich entspannte ich mich wieder ein wenig. Die Felsen würden uns schon nichts tun. Gerade wollte ich mich zu Hadiya umdrehen, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Mein Kopf ruckte herum, aber es war nichts zu sehen.

Die Schatten wirkten auf einmal viel dunkler. Könnte sich jemand darin verstecken? Nervös ließ ich meinen Blick suchend über die Umgebung wandern. Nichts. Das konnte doch gar nicht sein! Als mir ein Stein gegen die Verse stieß, zuckte ich zusammen und machte einen Satz. Zu spät bemerkte ich, dass es kein Stein gewesen war. Rauch stob auf und ich konnte mich nur noch beschützend auf Hadiya werfen, bevor alles schwarz wurde.

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt