Kapitel 32 "Silbertränen"

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Wenn ich je vorgehabt hätte, Leichen zu vergraben, gäbe es wohl niemanden, mit dem ich es lieber machen würde. Nachdem wir das Spiegelwesen zurück in seine Welt geschickt hatten. War mir klar geworden, dass wir Dwight nicht einfach in einem der Zimmer verrotten lassen konnte. Deshalb waren wir jetzt hier in der Dunkelheit und ächzten, weil Sawyer trotz seiner Größe so einiges wog. Bisher hatte Juvia nicht einmal wissen wollen, wie er gestorben war. So genau wusste ich das zwar auch nicht, aber trotzdem war es irgendwie naheliegend, mich darauf anzusprechen.

„Hast du deine Familie schon gefunden?", fragte ich sie ein wenig außer Atem. Sie schüttelte angestrengt den Kopf: „Es hat ewig gedauert, herauszufinden, wie ich überhaupt aus dem Spiegel rauskomme und nachdem ich das geschafft hatte, hab ich zuerst nach dir gesucht. Mir muss klar gewesen sein, dass du nicht auf mich hören würdest und dich gefangen nehmen lassen würdest. Im Übrigen sollte ich dir das wohl übel nehmen."

Langsam setzte ich den Körper ab: „Wenn ich weggelaufen wäre, hätte er auf mich geschossen. Dann wären wir jetzt beide..." Ich beendete den Satz nicht, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Tot? Nein, sie lebte ganz eindeutig. Anders? Auf jeden Fall, aber musste anders überhaupt schlecht bedeuten? „Du musst es mir nicht noch unter die Nase reiben. Ich weiß schon, dass ich kein Mensch mehr bin und glaub mir, sonderlich angetan bin ich davon auch nicht. Aber nur weil ich kein Mensch mehr bin, bedeutet das nicht, dass ich auch nicht mehr menschlich bin. Ja, das klingt dumm, aber ich will keine von ihnen sein."

Nun ließ auch sie Dwights Beine los und hockte sich auf den Boden. „Eine Rebellion beginnt mit einem einzigen Menschen, der weiß, was er nicht mehr sein will", fing ich an. Sie hob den Kopf: „Und eine Rebellion ist nur der Anfang, einer Revolution, oder wie?" Ich nickte lächelnd: „Vielleicht, Spiegelmädchen." Der Spitzname ließ sie das Gesicht verziehen: „Bleib bitte bei Juvia." In Anbetracht dessen, dass wir noch einen Toten zu vergraben hatten, hielt ich ihr die Hand hin.

Als sie mich berührte, war ich überrascht, lebendige Wärme zu spüren. Für einen Moment flackerte ihre Erscheinung und sie wurde wieder silbern. Es hatte etwas Majestätisches an sich, das ich weder einzuordnen, noch zu beschreiben wusste. „Wenn wir das erledigt haben, sollten wir einen Weg finden, unsere Familien hierher zu bringen. Und noch viele andere Menschen; hier ist es sicher. Außerdem gibt es Vorräte, mit denen die Leute hier überleben können, bis wir die Welt gerettet haben."

Ich war selbst etwas erstaunt über meinen Entschluss, ihr zu helfen. Aber ich meinte es ernst. „Du wolltest doch kein Held sein", erwiderte sie. „Sieht so aus, als hätte ich plötzlich Lust bekommen, der neue Herkules zu werden." Lachend ließ sie meine Hand los: „Und wo sind die Muskeln?" Sie drehte sich um und stolperte dabei prompt über die Leiche. Reflexartig schnellte ich vor, um sie aufzufangen, aber am Ende landeten wir beide auf dem Boden.

Besser, als auf der Leiche. Wir waren uns so nah, dass ich zum zweiten Mal darüber nachdachte, sie zu küssen. Damals auf dem Felsvorsprung, als sie neben mir eingeschlafen war, war es mir genauso ergangen. Ich blinzelte sie an, das Schwarz ihrer Pupillen hatte die Iris fast ganz verdrängt. Ihre Haare schimmerten im Licht des Mondes und ihre Wimpern warfen lange Schatten auf ihre dunklen Wangen.

„Wow", wisperte sie und ich spürte ihren Atem, „scheint so, als würde aus dir nie einer der Heroen werden. Du kannst nicht mal eine Jungfrau in Nöten retten." Als sie sich aufrichtete, wusste ich, dass der Moment vorbei war und ich war mir nicht sicher, ob ich das gut oder schlecht finden sollte. „Hast du schon mal eine Leiche verschwinden lassen müssen?" „Klar", antwortete ich, „das gehört zum Rockstarleben dazu. Was hast du denn gedacht?" Sie zeigte ihre geraden, weißen Zähne.

„Und warum? Hat jemand eure Musik geklaut, oder was?" „Nein." Ernst sah ich sie an: „Viel schlimmer. Sie haben gemerkt, dass wir ihre Musik geklaut haben. Deshalb mussten wir sie aus dem Weg schaffen." „Klingt aufregend."

Während wir gruben, herrschte Schweigen. Ohne Juvias neu erworbene Kräfte, hätten wir wohl ein halbes Jahrtausend gebraucht, um ein Loch auszuheben, in dem wir Dwight begraben konnten. „Erinnerst du dich an unser Gespräch über das Leben nach dem Tod?" Langsam nickte ich; es war gar nicht so lange her, und kam mir trotzdem unendlich fern vor.

„Tja, wie sich herausstellte, gibt es keinen Himmel. Auch keine Hölle. Nachdem ich tot war, war da einfach Nichts. Es war irgendwie beängstigend. Da war einfach nur eine endlose Leere und als ich aufwachte, fragte ich mich, ob das wirklich schon alles gewesen sein sollte. Verstehst du das? Uns wird das Paradies versprochen, aber warten tut nur Finsternis."

Bedauernd hob ich den Kopf, um sie bei ihrer Arbeit zu beobachten. Ihre Hände waren zu Schaufeln geformt; fast wurde ich neidisch, doch dann erinnerte ich mich an den Preis dieses Talents. „Sag mal, wie lange kannst du außerhalb eines Spiegels bleiben?" Sie hielt für einen Moment inne, als müsste sie sich die Antwort gut überlegen.

„Lange genug. Am Anfang konnte ich mich nur für wenige Minuten in dieser Welt aufhalten, aber die Perioden werden länger. Und ich hab die hier." Sie zog eine Kette unter ihrem Oberteil hervor. Worum trug seit neuestem jeder Spiegelanhänger um den Hals? Auf der Oberfläche befand sich ein filigranes Muster, ähnlich dem, das sie auf das Gesicht des Spiegelwesens gemalt hatte. „Ist das auch eine Bannrune?"

„Mehr oder weniger. Sie bewirkt, dass man durch ihn nur hinein, nicht aber hinaus kommt. Im Notfall komme ich also zurück in die andere Welt, aber von dort kommt niemand hierher." Verwundert betrachtete ich sie. Der Wind spielte mit ihren Locken und schob sie immer wieder hinter ihren Ohren hervor. „Seit wann weißt du so viel über Runen?"

Unschlüssig zuckte sie mit den Schultern: „Ich weiß es nicht genau. Plötzlich war dieses Wissen in meinem Kopf, nach dem ich nicht gefragt hatte. Ich bin aufgewacht und es waren einfach all diese Zeichen da, die ich noch nie gesehen hatte." Ich warf ihr einen mitfühlenden Blick zu, doch sie bemerkte es gar nicht. „Wie lange kannst du noch hierbleiben, bevor du wieder zurückmusst?"

„Ein paar Stunden, maximal einen halben Tag. Aber mach dir keine Sorgen, ich werde dich schon wieder finden." „Wie hast du mich überhaupt gefunden?", fragte ich neugierig. „Solange ich drüben bin, sehe ich alles, was ein Spiegel hier sieht. Das sind zwar unendlich viele Eindrücke, aber die Menschen halten sich von Spiegeln fern. Zumindest die, die überlebt haben. Um nach dir Ausschau zu halten, musste ich nur auf Bewegungen achten. Mit der Kette hast du es uns ziemlich einfach gemacht."

Schamesröte stieg mir in die Wangen, weshalb ich zu Boden guckte, und ihr mit meinen Haaren den Blick auf mein Gesicht versperrte. „Jetzt kommt jedenfalls keiner mehr durch sie hindurch." „Das ist äußerst beruhigend. Kannst du so auch unsere Familien finden?" Sie schüttelte den Kopf: „Mal abgesehen von dir ist kaum jemand so blöd, sich einem Spiegel auch nur zu nähern. Außerdem können wir niemandem sagen, was ich jetzt bin. Sie würden mich hassen."

„Juvia, das ist deine Familie, die würden dich nicht hassen", versuchte ich, sie zu beschwichtigen. Sie schüttelte traurig den Kopf: „Ich gehöre jetzt zu den Wesen, die dabei sind, die Menschheit auszurotten, Ross. Natürlich würden sie mich hassen." „Das glaube ich nicht. Du bist ihre Tochter und ihre Schwester. Egal was du tun würdest, sie würden dich lieben." Sie hob eine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen.

Bisher hatte ich gedacht, dass die Spiegelwesen nicht weinen konnten, aber natürlich konnten sie. Eine silberne Träne lief über Juvias Wange und tropfte auf das leere Grab. Ich wusste, dass sie nicht mehr darüber sprechen wollte, also ließ ich es gut sein, zumindest vorerst. Wirklich zufrieden mit dem Ausgang dieses Gesprächs war ich nicht. Als wir den Leichnam in der Grube positionierten, war es schon fast morgen.

Die ersten Sonnenstrahlen erhellten den Horizont und ich spürte die bleierne Müdigkeit, die in meinen Gliedern steckte. Ich rieb mir erschöpft die Augen, als Dwights lebloser Körper von Erde bedeckt war. „Komm, lass uns deine Hände verarzten", sagte sie. Gutmütig ließ sie sich von mir zu den Duschen führen, wo sie zuerst das Blut abwusch und dann die Holzsplitter entfernte. Ich hatte den Schmerz in den letzten Stunden vollkommen ausgeblendet, aber das machte ihn jetzt umso schlimmer.

Seufzend ließ ich es über mich ergehen, während meine Lider immer schwerer wurden. „Ich schau mich um, während du schläfst, okay?" Teilnahmslos nickte ich. Langsam ging ich zu meinem Zimmer zurück, nur um mich auf mein Bett fallen zu lassen und innerhalb weniger Sekunden in ein tiefes Schwarz abzutauchen. Selbst das helle Tageslicht konnte mich nicht wecken, dafür war ich viel zu erschöpft.

Ein kleiner Teil von mir hoffte, dass der letzte Tag nur ein Traum gewesen war und ein sehr viel größerer Teil wünschte sich, dass Juvia wirklich noch am Leben war.

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt