Kapitel 43 "Trugfolter"

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Ich wurde wach, weil die Söldner um mich herum unruhig waren. Aaron war der erste, der wach wurde. Während ich noch verschlafen vor mich hin blinzelte, waren die anderen drei schon auf den Beinen und hatten ihre Waffen gezogen. „Das Spiegelwesen ist noch nicht nah." Er schloss die Augen, als würde er in sich hineinhorchen. „Aber es kommt näher." Ich rieb mir auch den Rest des Schlafes aus den Augen, die Müdigkeit war plötzlich verflogen.

Ehe ich es mich versah standen wir vor dem Haus und Victoria drückte mir eine ihrer Pistolen in die Hand. „Wir teilen uns auf, wer es zuerst findet, schießt. Zielt auf den Kopf, das hält sie am längsten auf. Schnell erklärte mir Aaron, warum wir es überhaupt auf einen Kampf ankommen ließen: „Eigentlich wollten wir morgen bei Tageslicht das Haus weiter durchsuchen. Die Sonne wird bald aufgehen und weil Nicholas die Wesen ohnehin nicht sehen kann, wird er sich noch einmal gründlich umsehen. Das Spiegelwesen ist aber auf dem Weg hierher und wenn es das Haus zerlegt, wird nicht mehr viel davon übrig sein. Deshalb müssen wir es hinhalten. Ich kann nicht sagen, in welcher Richtung das Wesen ist, also teilen wir uns auf und es wird geschossen, sobald es jemand sieht. Die anderen beiden kommen dann und helfen. Verstanden?"

Ich nickte; die Situation überforderte mich und trotzdem war ich irgendwie stolz, dass sie auf mich zählten. Bis zum ersten Abzweig lief ich neben Victoria her, dann bog sie nach links ab, während ich mich nach rechts wandte. Ich achtete auf jede noch so kleine Bewegung und drehte mich immer wieder um, weil ich das Gefühl hatte, verfolgt zu werden. Mit erhobener Pistole schritt ich die Straße hinunter. An einem Straßenschild entzifferte ich Lightning Street oder so ähnlich. In jedem Schatten vermutete ich einen Angreifer und ich war so auf die Details fixiert, dass ich die Gestalt, die in der Mitte der Straße auf mich zu rannte erst gar nicht bemerkte.

Mit zitternden Fingern zielte ich auf ihren Kopf, doch dann hielt ich inne. Zögerlich ließ ich die Pistole sinken. War das eine Falle? Aber dann sprintete ich einfach los und umarmte sie so fest ich nur konnte. Ihre dunklen Haare kitzelten mich in der Nase. Als ich mich von ihr löste und ihr in die dunklen Augen sah, fragte ich: „Was machst du hier, Courtney?" „Dasselbe könnte ich dich fragen", antwortete sie schnippisch. Irgendetwas stimmte hier nicht. Warum sollte sie hier sein? Das war ein zu großer Zufall, als dass sie es wirklich sein konnte. „Ich hab zuerst gefragt."

Schnell machte ich einen Schritt zurück und hob die Pistole wieder, doch sie schlug sie weg und lachte. „Du bist so dämlich." Vor meinen Augen veränderte sie sich, schrumpfte ein wenig, wurde bulliger und bekam ein neues Gesicht. Woher hatte er Courtneys Gesicht gekannt? Mit einem Satz war er bei mir und legte mir schnell eine Hand auf den Mund, damit ich nicht schreien konnte. „Ich weiß, dass ihr vorhabt, den Übergang zwischen den Welten wieder undurchsichtig zu machen. Uns gefällt das nicht. Wir haben ein paar Nachforschungen über die angestellt. Fayola hat uns viel erzählt, wenn sie nicht gerade vor Schmerz geschrien hat. Sie war doch eine alte Freundin von dir, nicht wahr?"

Ich musste an das Mädchen im Spiegel denken, das mich über zwei Jahre wie eine dunkle Vorahnung verfolgt und doch nie ein Wort gesprochen hatte. Sie hatte mir erzählt, wie sie in den Spiegel gekommen war und warum die anderen so vom Hass zerfressen waren und sie nicht. „Auch wenn ihr es noch nicht wisst. Wir sind die besseren Menschen: wir sind anpassungsfähig, stärker und widerstandsfähiger. Was seid ihr? Ein zerbrechliches Konstrukt aus Knochen und Haut." Seine Haut schien zu schmelzen und darunter kam ein Skelett hervor.

Das Skelett schnipste mit der freien Hand mit den Fingern. „Ihr seid nicht mal in der Lage, so zu überleben. Wieso solltet ihr die Herrschaft über diese Welt verdient haben? Wir sind tausendmal besser als ihr, redet ihr nicht immer vom Recht des Stärkeren?" Der Griff um meinen Mund wurde stärker und ich schmeckte Blut, wahrscheinlich mein eigenes. Ich hätte direkt schießen sollen, anstatt mich vom Äußeren dazu verleiten zu lassen, dass es tatsächlich Courtney war. Wie hatte ich nur so dumm sein können? Jetzt würde ich sterben und ich konnte nicht einmal sagen, dass es nicht meine Schuld war.

„Ich will dein Herz", meinte die Kreatur leichtfertig und verwandelte eine ihrer Hände in ein spitzes Messer. Langsam setzte er es auf meiner linken Brust an. Ich schloss die Augen, während er behutsam in mein Fleisch schnitt. Wenn ich mich wehren würde, gäbe es am Ende nur noch mehr Sauerei. Doch dann wurde ich plötzlich losgelassen und unsanft zu Boden gestoßen. „Du!", zischte das Wesen ungehalten und fixierte einen Punkt hinter mir. „Ich?", antwortete eine mir nur zu gut bekannte Stimme belustigt. Juvia hatte echt immer ein perfektes Timing.

„Mal ehrlich. Ihr bezeichnet euch als bessere Menschen und tötet sie dann. Das klingt für mich nach etwas, dass die Menschen tun würden. Ihr seid keinen Deut besser als wir." Knurrend machte das Wesen ein paar Schritte in ihre Richtung. „Du bist kein Mensch mehr, Mädchen. Hör auf, dich als eine von ihnen zu betrachten." Juvia legte den Kopf schief und ihre dunklen Locken reichten ihr dabei fast bis zum Bauchnabel. „Ach, halt doch die Schnauze. Ich bin genauso wenig eine von euch wie Fayola. Und die habt ihr halb tot zurückgelassen. Wenn ihr wirklich glaubt, dass ihr besser als die Menschen seid, dann liegt ihr falsch."

Ungehalten preschte das fremde Spiegelwesen auf sie zu, doch sie wich mit einem einfachen Schritt zur Seite aus. Als er schon fast an ihr vorüber war, streckte sie ein Bein aus und schlug ihm von hinten gegen den Kopf. Ich lag noch immer auf dem Boden, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen. Irgendwo musste die Pistole liegen, aber wenn ich einen Schuss abfeuerte, könnte das Juvia ebenso in Gefahr bringen. War ich bereit, dieses Risiko einzugehen? Die Söldner würden kein Verständnis für ihre Lage haben und ich konnte es ihnen nicht einmal verübeln.

Nach allem was die Spiegelwesen angerichtet hatten, würde ich auch keinem von ihnen mehr trauen, aber Juvia hatte ich nun mal schon vorher gekannt. Schwankend richtete ich mich auf, ohne die Kämpfenden aus den Augen zu lassen. Sie bewegten sich schneller und eleganter als normale Menschen und sie verwandelten sich durchgehend. Mal glaubte ich, ein Raubtiermaul zu erkennen, doch da war der Augenblick auch schon vorüber. Es klang als würde man Metall auf Glas reiben, wenn die beiden aufeinanderprallten. Sie schlugen nacheinander und reflektierten dabei das Mondlicht wie wildgewordene Diskokugeln.

Beim Kämpfen rissen sie einen Gartenzaun nieder, aber sie rollten darüber hinweg, als würden sie es gar nicht bemerken. Ich griff mir nun doch die Pistole, traute mich aber nicht zu schießen, in der Angst, Juvia zu treffen. Es brächte sie zwar nicht um, aber es würde sie für eine Weile außer Gefecht setzten. Außerdem war mir klar, dass wir nur noch wenig Zeit hätten, nachdem ich schießen würde. Denn das musste ich, weil abzusehen war, dass Juvia diesmal den Kürzeren zog. Es gab zwar kein Blut, aber der Kampf war nicht ganz ausgeglichen.

Die fremde Kreatur wusste wesentlich besser als Juvia, wie sie mit ihren Kräften umgehen musste. Mit bebenden Fingern hielt ich die Waffe umklammert. Ich konnte nicht schießen, solange Juvia so nah bei ihm stand, beziehungsweise lag, denn inzwischen kugelten sie sich auf dem Boden und versuchten sich dabei gegenseitig umzubringen. Irgendwie war es traurig, dass ich mir immer wieder von einem Mädchen den Arsch retten lassen musste. Mit dem Schaft des Revolvers schlug ich nach Juvias Gegner und erwischte ihn sogar, aber das machte ihn nur noch rasender.

Sie hatte alle Hände voll zu tun, seine Schläge abzuwehren, während ich versuchte, auf ihn zu zielen. „Schieß einfach", brüllte sie und ich drückte ab. Der Schuss ging fehl, aber um Haaresbreite hätte ich Juvia getroffen. Der zweite Schuss traf die Spiegelgestalt am Hals und sie war für wenige Sekunden außer Gefecht gesetzt und diese Zeit nutze Juvia, um ihm eine der Runen ins Gesicht zu ritzen. Dann zog sie eine Kette unter ihrem Top hervor, an der ein alt bekannter Spiegel hing. Sie ließ den leblosen Körper darin verschwinden und grinste mich an.

„Das ist mir echt auf Dauer zu anstrengend." Vor meinen Augen heilten die wenigen Wunden, die sie hatte. „Wir haben vielleicht drei Minuten, bevor die anderen hier sein werden." „Okay", sagte sie, ohne weitere Fragen zu stellen, „dann müssen wir die Zeit wohl nutzen." Damit warf sie sich mir um den Hals und drückte ihre Lippen stürmisch auf meine. 

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt