Kapitel 40 "Glasruhe"

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Mit einem Krachen fiel der Aktenschrank gegen die Wand. Eine Kaskade von Papieren ergoss sich über den gefliesten Boden, einige Ordner blieben erst kurz vor meinen Füßen liegen. „Das ist doch alles zum Kotzen." Ein weiterer Schrank knallte auf den Boden und wurde mit einem Tritt in Richtung Zimmermitte befördert. Mit jedem Zimmer, in dem wir nicht fündig wurden, sank die Stimmung weiter.

„Beruhig dich", sagte ich resigniert zu Rocky, dessen Wangen von seinem Wutausbruch gerötet waren. „Wie soll ich bitte ruhig bleiben, wenn da draußen jeden verdammten Tag mehr Menschen sterben?" Ich konnte Juvias Stimme wirklich hören, wie sie sagte, dass es uns bisher ja auch nicht gestört hatte. Der einzige Unterschied zu damals war, dass es uns genauso treffen konnte und plötzlich war man bereit, zu helfen.

Damals wünschte ich mir, sie würde hinter mir auftauchen und mir Vorwürfe machen, Hauptsache ich könnte sie sehen und wüsste, dass sie keine Dummheiten gemacht hatte. Aber natürlich machte sie genau die... „Wenn wir jetzt auch noch die Nerven verlieren, macht das überhaupt nichts besser. Im Gegenteil. Reiß dich zusammen und hilf mir, diese Ordner durchzugucken." Ich klang nicht besonders Autoritär, sondern eher erschöpft und doch funktionierte es. Mein älterer Bruder ließ die Schultern hängen.

Seine Körperhaltung war genauso, wie ich mich fühlte. Schweigend machten wir uns wieder an die Arbeit und durchforsteten die unzähligen Ordner nach einem Namen. Dwight Sawyer, der Mann, der Juvia umgebracht hatte und dann doch wieder nicht. Im Nachhinein kam es mir so unwirklich vor, dass sie je tot gewesen war, dass ich das Gefühl bereits vergessen hatte. Als hätte mir meine Wahrnehmung nur einen Streich gespielt und ich wäre darauf hereingefallen, während die Welt um mich herum nie daran geglaubt hatte.

Die zweite Nacht in Vegas brach bereits an, wie ich mit einem Blick aus dem Fenster feststellte. Wir befanden uns im 5. Stock eines Firmengebäudes, im Erdgeschoss waren mehrere große Gerichtssäle. Die langen Flure waren verlassen und menschenleer und es hatte sich bereits eine dünne Staubschicht über alles gelegt. Obwohl es hier keine Spiegel gab, waren die Leute lieber aus der Stadt geflüchtet, als hier Unterschlupf zu suchen.

Dank meiner Geschwister ging die Suche wesentlich schneller, als wenn ich es alleine versucht hätte. Leider waren es unzählige Büros, mit unzähligen Aktenschränken, die unzählige Mappen enthielten. „Ich vermisse Google", sagte Rocky und ich musste unwillkürlich grinsen. „Mir fallen da noch ein paar andere Dinge ein, die ich vermisse." Er lugte hinter einem Stapel Papier hervor und zog eine Augenbraue nach oben.

„Zufällig ein Mädchen?" Darauf hatte ich eigentlich nicht hinausgewollt, aber natürlich stimmte es. „Vielleicht." Mein Bruder grinste nur wissend und widmete sich wieder den Akten. Wenn wir in nächster Zeit nicht endlich fündig werden würden, gäbe ich vielleicht doch noch die Hoffnung auf. Im Nebenzimmer hörte ich, wie sich Mum und Dad leise unterhielten. Bisher hatten sie mir keinen einzigen Vorwurf gemacht, was mich zutiefst erleichterte. Auf der anderen Seite hatten sie aber auch nicht gesagt, dass das hier eine gute Idee wäre.

Ich gähnte ausgiebig, als die Dunkelheit den Raum langsam grau werden ließ. Meine Augen wurden immer müder davon, die Buchstaben zu entziffern und als es fast unmöglich wurde, gaben wir es für heute auf. Gemeinsam standen wir auf und stellten uns ans Fenster. Las Vegas war einmal eine helle Stadt gewesen, voller Leben und Licht. Ein Schatten hatte sich über die ganze Skyline geschoben. Kein einziges Fenster war mehr beleuchtet, nur einige flackernde Kerzen verrieten hier und dort noch ein Überbleibsel des damaligen Lebens.

Allmählich verschwammen die Gebäude mit dem Dunkel der Nacht und die Sterne erschienen dort oben, wie um den Verlust des Lichtes wettzumachen. Das breite Band der Milchstraße schlängelte sich über den Himmel, es war noch immer eine atemberaubende Sicht, auch wenn ich sie nun schon so oft gesehen hatte. Als wir das Fenster öffneten drangen die Geräusche der Stadt zu uns herein.

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt