Kapitel 8 "Angststurz"

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Die ersten paar Straßen, die wir entlang mussten, waren nahezu ausgestorben. Wir hatten meinen Wagen stehen lassen, in der Hoffnung wir wären zu Fuß womöglich schneller. Schon wenige Ecken weiter begann ein scheinbar endloser Stau. Die eine Hälfte der Bevölkerung wollte raus aus der Großstadt und die andere Hälfte versuchte verzweifelt, sämtliche Spiegel loszuwerden.

Es war unglaublich laut auf den Straßen, grelle Schreie erklangen aus allen Richtungen. Die Scherben tausender Spiegel bedeckten den Asphalt, der in der Hitze des anbrechenden Mittags zu flimmern begann. „Das sieht übel aus", murmelte Juvia, als wir in eine kleine Seitengasse einbogen, um den Menschenströmen aus dem Weg zu gehen.

Die Leute, die keine Autos besaßen, oder es für zu riskant hielten, sie zu benutzen, waren auf den Gehsteigen und zwischen den Autos unterwegs. Überall war das Dröhnen von Alarmanlagen zu hören, als wollten sie die Stadt vor ihrem Untergang warnen. Innerhalb der letzten Stunden musste komplettes Chaos ausgebrochen sein. Wir hielten uns auch weiterhin an die verwinkelten und abgelegenen Straßen, aber selbst hier tummelten sich die Menschen auf der Suche nach Schutz.

Für einen kurzen Moment hatte ich Juvia aus den Augen verloren, und um ein weiteres Mal zu verhindern, nahm ich ihre Hand. Sie fühlte sich warm in meiner an. Ganz gewöhnlich und normal. Als wir nach Ewigkeiten endlich eine nahezu verlassene Straße gefunden hatten, hielt sie an. Ich hielt ihre Hand immer noch und niemand sah es als eine Notwendigkeit an, sie loszulassen.

„Wir kommen hier nicht raus. Ich weiß auch gar nicht, was das bringen soll; draußen wird das Chaos nicht besser sein. Nur fällt es hier viel eher auf." Trotzdem wollte ich die Stadt verlassen. Meine ganze Familie war draußen, ich konnte sie nicht einfach im Stich lassen. Aber sie hatte recht.

Zu Fuß würden wir ewig brauchen, noch dazu wenn wir spiegelnde Schaufenster und ähnliches vermeiden mussten. Im Grunde hatte es gar keinen Zweck. „Was sollen wir dann machen?" „Meine Wohnung ist nur drei Blocks weiter. Wir können dort bleiben, bis die Straßen wieder leer sind und dann raus."

Es klang nach einem vernünftigen Vorschlag, und trotzdem wollte ich lieber direkt zu den anderen. Ich zwang mich dazu, zu nicken. Die Welt befand sich gerade in einer Krise und ich wollte keines der Opfer werden. „Also gut. Aber was machen wir mit den Spiegeln?" Bisher hatte ich nicht einen einzigen Blick in eines der reflektierenden Objekte geworfen. Zu groß war meine Angst vor dem, was ich sehen könnte.

„Ich hab meinen Spiegel selbst einmal auf den Boden geworfen, aber deshalb gehen sie nicht weg. Jedenfalls hat sie es nie getan. Ich glaub nicht, dass es bei den Neuen anders ist. Also sollten wir einfach nur dafür sorgen, dass niemand in die Nähe davon kommen kann. Von jeglichen Reflektionen."

Zum ersten Mal zahlte es sich in gewisser Weise aus, dass sie mich schon so lange begleitete. Ich kannte die Gesetzmäßigkeiten, zumindest am Rande und ich konnte einigermaßen einschätzen, ab wann sie uns gefährlich werden konnten.

„Ross, bisher haben immer alle nur von den Spiegelbildern geredet. Vielleicht können sie uns nur was tun, wenn sie absolut klar sind, wie in einem Spiegel eben. Was meinst du?" Wir hasteten weiter durch die Straßen, warfen keinen Blick zurück und hatten die Finger noch immer verschränkt. „Ich will es jedenfalls nicht herausfinden", sagte ich bestimmt und beschleunigte meine Schritte.

Vor einer besonders großen Scherbe lag eine Leiche. Gleichzeitig drehten Juvia und ich uns weg. „Das ist so grausam", flüsterte sie und rieb sich mit dem Arm über das Gesicht. „Ich hoffe Nicole geht es gut." „Sie hat mit dir telefoniert, so schlecht wird es ihr nicht gehen", beruhigte ich sie. „Ja, schon. Aber das ist Stunden her. Und ich glaube nicht, dass sie sich beim Töten sonderlich viel Zeit lassen."

Damit hatte sie vermutlich recht. Nach allem was ich gehört und gesehen hatte, gingen sie wahrlich nicht zimperlich mit ihren Opfern um. Ich wollte unter gar keinen Umständen eines davon werden. Ab diesem Moment übernahm Juvia die Führung, immerhin wusste sie, wo wir entlang mussten. Es dauerte nicht lange, bis wir einem dunklen Neubau zum Stehen kamen.

„Früher hab ich mich immer aufgeregt, dass wir so wenige Fenster haben, aber jetzt bin ich froh darum", erklärte sie mir, während sie einen Schlüssel aus ihrem Portemonnaie zog und die Tür aufschloss. Das Treppenhaus war unbeleuchtet, doch nachdem wir es betraten, flammte die Deckenbeleuchtung auf.

„Wenigstens haben wir noch Strom. Ich dachte immer, der Weltuntergang würde damit beginnen, dass die Wasser- und Stromversorgung zusammenbricht, oder dass eine Horde Zombies über die Menschen herfällt." Ihre letzte Bemerkung entlockte mir ein kleines Lächeln. „Das mit den Zombies wäre schon was gewesen, nicht?", fragte ich sie ein wenig neckisch.

Das Ironische daran war, dass es im Grunde sogar wahrscheinlicher gewesen war, als ein Überfall der Spiegelbilder. Juvia zuckte mit den Schultern: „So unwahrscheinlich wäre das gar nicht gewesen. Es gibt einen Pilz, der kleinere Tiere fremdsteuern kann, warum nicht also auch irgendwann Menschen? Aber jetzt haben wir schon die Apokalypse durch wildgewordenen Reflektionen." Gemeinsam erklommen wir die Stufen, bis Juvia vor einer dunklen Holztür anhielt.

Den ganzen Weg hinauf hatten wir geschwiegen, der bittere Nachgeschmack unseres Gesprächs trübte die Stimmung. „Direkt auf der linken Seite ist ein Spiegel, den wir nach Möglichkeit meiden und loswerden sollten." Ich nickte zustimmend, dann öffnete sie die Tür. Wir bewegten uns langsam und vorsichtig, als würden wir damit rechnen, jederzeit angegriffen zu werden.

Nervös fuhr ich mir durch die Haare. Der Spiegel war groß. Ein mulmiges Gefühl ergriff Besitz von mir, als das dunkelhäutige Mädchen vor mir auf die Knie ging und unter dem Spiegel hindurchkroch. Wir redeten nicht, als wir in von beiden Seiten ergriffen und aus seiner Verankerung hoben. Das Glas war dick und dementsprechend schwer, der hölzerne Rahmen tat sein übriges, um uns das Vorhaben zu erschweren. „Wohin damit?"

Die Worte waren praktisch nicht zu hören. Juvia musste meine Lippenbewegungen lesen, um mich zu verstehen. Mit einem Kopfnicken bedeutete sie mir, dass wir den Spiegel den schmalen Gang hinab tragen würden. Ich fragte mich, ob die Reflektionen uns auch weh tun konnten, wenn wir eigentlich gar nicht im Spiegel zu sehen waren.

Sie konnten das Glas jetzt verlassen, also mussten sie im Grunde nicht darauf warten, dass wir uns ihnen näherten. Aus diesem Winkel war es zwar schwer zu erkennen, aber die Luft vor dem Spiegel schien zu vibrieren. Vorsichtig machte ich Juvia darauf aufmerksam, indem ich zuerst sie ansah und dann auf die flimmernde Stelle. Das konnte wohl kaum etwas Gutes bedeuten.

Wir hatten gerade ein Zimmer passiert, das ich für das Wohnzimmer hielt, als das Verlangen, den hölzernen Rahmen einfach loszulassen fast übermächtig wurde. Es war viel zu riskant, den Spiegel in der Wohnung zwischenzulagern. „Weg damit", formte ich mit dem Mund. Juvia leckte sich über die Lippen, das tat sie offenbar immer, wenn sie extrem nervös oder angespannt war.

Ich kannte sie nicht einmal einen Tag und schon jetzt begann ich, in ihren körperlichen Reaktionen zu lesen. Es war wie ein Automatismus, den ich einfach nicht abstellen konnte. Dann endlich nickte sie und stimmte meinem Vorschlag somit zu. Unsere Gesten wurden hecktischer. Fast wäre ich über einen Teppich gestolpert und für einen kurzen Moment ergriff die pure Angst meinen Körper.

Aber dann hielt ich mein Gleichgewicht. Trotzdem ließ das Herzrasen nicht mehr nach. Wenn etwas im Spiegel war, das lediglich auf einen falschen Schritt wartete, konnten wir uns keine Fehler leisten. Wir waren nur zu zweit, den Erzählungen der Mädchen von gestern war zu entnehmen, dass es weit mehr gebraucht hatte, um Maria vom Spiegel wegzuziehen.

Ein breites Fenster versprach endlich Erlösung. Mit einer flinken Handbewegung, riss Juvia die Verriegelung nach oben und stieß es auf. Wir fackelten nicht lange und stellten den Spiegel quer, damit er durch den Rahmen passte. Nur Sekunden später splitterte Glas und Holz auf dem Gehsteig.

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt