Eine Erklärung

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„Warum seid ihr beide so ernst?", frage ich zu Beginn. „Flora, dieses Thema entscheidet über unser aller Schicksal. Ich denke, dass man das schon ernst nehmen kann", erläutert mir die Wieselwandlerin.

„Genau. Weil unsere Hoffnung auf einer Prophezeiung besteht und du ein Teil bist", meint Aura nun wieder bitter und dreht sich zu mir um. Wieder bekomme ich bei ihrem durchdringenden Blick Gänsehaut.

„Aura, ich beginne von vorne. Hast du ihr schon die Geschichte des Heiligtums erzählt?", unterbricht Smaragda die angespannte Stimmung. „Ja, vorhin." „Okay gut. Dann kann ich mir das sparen", erwidert die Wieselwandlerin.

„Unsere Geschichte kennst du bereits, aber deswegen bist du schließlich nicht hier. Zurzeit wird unsere Macht und unser Wald bedroht. Dieser endlose Wald beinhaltet so viel Leben und dieses ist in Gefahr. Dieser Wald muss frei bleiben, sonst hat es auch Auswirkungen auf eure Welt", erklärt sie. Aura wirft ihr einen durchdringenden Blick zu, ein Zeichen zum Fortfahren.

„Deshalb haben wir dich gesucht. Die Prophezeiung besagt, dass ein Mädchen, welches eine besondere Verbindung zur Natur besitzt, in den Kampf für Leben einziehen wird. Mit Verbündeten wird sie kämpfen. Ein Sieg hängt von ihrer Verbündeten ab, die sich entscheiden wird, für welche Seite sie kämpft", beendet Smaragda ihre Prophezeiung.

„Wir müssen nur die Auserwählte finden, und alle sind sich sicher, du bist es", mischt sich Aura ein, ihr Blick auf mich fixiert. Ganz zufrieden wirkt sie nicht.

„Warum wolltet ihr es mir nicht erzählen?", frage ich. Den Rest wollte ich fürs erste nicht hinterfragen.

„Wir sind uns nicht ganz sicher. Es steht viel auf dem Spiel. Falls du die falsche bist, haben wir ein Problem", meint Smaragda. „Verstehe."

„Egal was passiert, wirst du für einen Ort kämpfen, den du eigentlich nicht kennst?", wendet sich Aura an mich. Ich halte inne. Meine erste Wahl wäre ja gewesen, aber sie hat recht. Bis vor kurzem hatte ich nicht einmal gewusst, dass dieser Ort existiert. Und der Kampf des Lebens klingt nicht unbedingt harmlos.

„Dachte ich's mir doch", meint Aura und wendet sich von mir. „Ich kann es nicht versprechen, aber ich werde mein Bestes geben. Ich werde euch nicht im Stich lassen", erwidere ich entschlossen.

Auf Smaragda breitet sich ein breites Lächeln aus. Auch Aura schaut etwas verwundert zu mir. Doch dann ändert er sich wieder zu ihrer normalen Miene. Mehr kann ich wohl nicht erwarten?

„Wieso solltest du dich um uns kümmern? Schließlich geht es deiner Familie auch nicht gut, oder?", sagt Aura. Meine Familie. Mein Bruder. Ich sollte zu ihm.

„Aura hat recht. Ich muss nach Hause und nach meinem Bruder sehen", beschließe ich kurzfristig. „Deinem Bruder geht es gut und er hat noch keinen Verdacht geschöpft", entgegnet Smaragda. „Woher willst du das wissen?", frage ich skeptisch. „Ich habe ein paar der Waldseelen beauftragt, nach ihm zu sehen", erwidert sie. Sie versuchen auch alles, um mich hier zu behalten.

„Schön. Aber du müsstest deinem Bruder dennoch Bescheid geben. Sage, dass du bei ner Freundin übernachtest", meint die Wolfswandlerin. „Ich weiß nicht, wie ich nach Hause komme." „Aura trägt dich", kommt es von Smaragda. „Wie bitte?", sagt Aura und wirft ihr einen tödlichen Blick zu. „Du bist stark, du schaffst das", erwidert sie mit einem frechen Grinsen. „Ich kann auch laufen..", versuche ich die Stimmung zu entspannen.

Die beiden funkeln sich weiterhin gefährlich an. Was will Smaragda mit der Provokation bezwecken? Aura besitzt die Größe eines normalen Wolfes. Sie könnte mich niemals halten.

„Ich bringe sie zu ihrem Bruder. Zufrieden?", gibt Aura nach. Das habe ich nicht erwartet. „Perfekt." Muss Smaragda da wirklich noch einen drauf setzten?

„Kommst du? Ich habe nicht ewig Zeit", meint Aura genervt und verlässt das Zelt. Ich tue es ihr gleich und schon finde ich mich auf einem, von Laternen geschmückten, Weg wieder, einen braunen Wolf neben mir laufen. Wann hat sie sich verwandelt?

Der Wolf strafft sein Tempo und kommt in einen leichten Trab. Warum haben es hier alle so eilig? Saphira letztens und jetzt Aura. Naja, Sport tut gut.

Wir joggen den Weg entlang bis ich endlich die mir bekannten Stellen wieder erkennen kann. Der Wald hellt sich auf und wir traben in das goldene Licht der Sonne. Ich kann unser kleines Haus erkennen.

Aura bleibt stehen. „Was ist los?", frage ich. »Ich bin ein Wolf«, erwidert sie, »Warte, da liegt Kleidung.« Der Wolf dreht sich um und schleift einen Fetzen von Stoff mit sich.

Dann sehe ich auch schon ihre Gestalt aus dem Wald streifen. „So kann ich vor deinen Bruder treten", meint sie und läuft auf das Haus zu.

Angekommen klopft - nein schlägt - Aura gegen die Tür. „Wir haben auch eine Klingel", sage ich gelassen und drücke den kleinen Knopf neben der Tür. Aura wirft mir einen verblüfften Blick zu. Ich muss mir ein Lachen verkneifen. Wahrscheinlich habe ich so auch reagiert, als ich den Wald gesehen habe.

Die Türklinke sinkt und mein Bruder kommt zum Vorschein. „Hallo Bruderherz!", begrüße ich ihn freundlich. „Flora! Wo warst du? Und wer ist sie?", fragt Leonardo. „Das ist Aura, eine Freundin. Und genau darum geht's. Dürfte ich heute bei ihr übernachten? Du bekommst das doch auch alleine hin, oder?", entgegne ich. „Ehm..okay. Warum nicht?", erwidert er. „Dankeschön! Habe dich lieb! Bis morgen!", Danke ich ihm und umarme ihn.

Aura und ich drehen uns um und verlassen die Türschwelle. Sie scheint, die Erfindung der Türklingel noch zu verarbeiten. Wenigstens kann sie jetzt nicht wütend werden oder sich über mich aufregen.

Wir joggen den Weg nun zum zweiten Mal heute entlang und langsam machen sich meine etwas schlappen Beine bemerkbar. Aura ist in ihrer Wolfsgestalt ausdauernder und beschwert sich über mein Tempo. »Wenn du so weiter läufst sterben wir auf halbem Weg an Altersschwäche«, drängelt sie. „Ich hätte mein Fahrrad nehmen können! Aber du hast es mir verboten!", erwidere ich genervt. Als wir das Haus verlassen hatten, hatte ich mein Fahrrad mit nehmen wollen, aber ein gewisses Mädchen hatte es mir verboten. Sie meint, sie will ihren Wald nicht mit Menschenerfindungen beschmutzen. Auf der anderen Seite will sie aber eine Türklingel, wo für auch immer.

»Türklingeln sind etwas anderes!«, protestiert die Wölfin. „Hör auf, meine Gedanken zu lesen!", entgegne ich ihr. »Nö«, kommt es kalt zurück. Wie einfühlsam sie doch ist.

Endlich erreichen wir die Zelte. Smaragda kommt uns entgegen und wirft uns einen fragenden Blick zu. „Und?", entgegnet sie uns. „Ich darf hier bleiben. Und Aura braucht eine Türklingel", erwidere ich. „Eine was?", kommt es von Smaragda. „Eine Türklingel. Damit muss man nicht mehr klopfen", mischt sich nun auch Aura ein. „Entschuldige? Klopfen? Du hast meine halbe Tür eingeschlagen!", meine ich entsetzt. „Ist auch egal", unterbricht das Wolfsmädchen die Conversation. Dafür bekommt sie von mir einen skeptischen Blick.

Smaragda bringt mich zu einem noch unbewohnten Zelt. „Hier bitte sehr! Dein Nachtlager", meint sie und deutet auf das einladende Zelt. „Gute Nacht", sagt sie freundlich und verlässt das Zelt.

Das Gebilde ist nicht anders eingerichtet, als die anderen. Ich habe die Wahl zwischen dem Kissen-Chaos und der Hängematte. Irgendwie sieht die Matte einladender aus.

Ich falle auf die Matte und bin anscheinend selbst dafür zu blöd. Die Matte weicht meinem Körper aus und ich pralle unsanft auf den Boden. Deprimiert über meinen lächerlichen Fehler, reibe ich mir das schmerzende Hinterteil. Zum Glück hat das keiner gesehen.

Ich zerre ein paar der Kissen unter die Matte. Falls ich noch einmal falle, schmerzt es nicht mehr...hoffentlich. Also gut. Zweiter Versuch.

Glücklich liege ich nun auf der Matte und denke über den Tag nach. Es ist heute wahnsinnig viel passiert. Schlafen werde ich heute Nacht wahrscheinlich gut. Meine Energie ist erschöpft und der Lauf mit Aura hat mir meine letzte Kraft genommen.

Ich gähne ein letztes Mal und schließe die Augen. Gute Nacht.

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