Geschwisterliebe

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„Flora!", ruft mein Bruder. Gerade kommt er in mein Zimmer hinein gestürzt. „Mama hat mir geschrieben. Sie hat es dir auch erzählt oder?", fährt er fort.

Wortlos nicke ich ihm entgegen. Sie hat es mir erzählt. Und jetzt mache ich mir Sorgen. Ich hätte es niemals erahnt. Woher auch? Aber es macht mich dennoch fertig. Als ich noch schwach nach meinen Kopfhörern geangelt hatte, war meinem Vater was passiert. Ich fühle mich so schlecht.

„Hör mir zu Flo. Ich verstehe dich. Ich mache mir auch Sorgen und Gedanken. Aber Papa ist ein Kämpfer, das weißt du doch. Und du kannst ihm jetzt nur helfen, indem du tapfer bleibst. Es ist keine Schande sich zu sorgen. Aber die Hoffnung sollte mehr Gewicht haben. Glaube ganz fest daran, dass es Papa bald wieder besser geht. Es wird dir helfen, deinen Schmerz zu bewältigen und ihm und auch dir Kraft schenken", erklärt Leonardo.

„Danke Leo", murmle ich. Er setzt sich neben mich auf mein Bett und umarmt mich. Wie von selbst drücke ich meinen Kopf an seine Brust. Egal bei wem wäre es mir unangenehm gewesen. Aber bei Leonardo kann ich sogar in Tränen ausbrechen und es würde mir nicht komisch vorkommen.

„Ich hab dich lieb", sagt mein Bruder leise. „Ich dich auch Leo", erwidere ich. Er ist ein toller Bruder. In seiner warmen Umarmung kann ich den Schmerz vergessen. Zu mindestens für einen Augenblick.

Es hilf einfach da zu sitzen. Niemand sagt etwas. Ich höre nur seinen ruhigen Atem. Ich spüre Geborgenheit, wie Nebel, um mich herum. Als wäre ich in einer Wolke, in der mir niemand etwas anhaben kann.

So sitzen wir mehrere Minuten nur rum. Bis ich mich vorsichtig aus der Umarmung löse. Mein Bruder lässt locker und wirft mir einen besorgten Blick zu. Ich erwidere seinen mit einem dankenden Blick und stehe auf.

„Es ist Golden Hour. Willst du mit heraus gehen? Die Natur hilft mir alles zu verarbeiten. Außerdem sieht sie zur Zeit wunderschön aus. Aber du musst natürlich nicht mit kommen", sage ich leise. „Klar. Diese Zeit habe ich am liebsten. Und wenn es dir hilft, sage ich nicht nein", antwortet mein Bruder liebevoll.

Wir ziehen uns Jacken über und schlüpfen in unsere Schuhe. Dann verlassen wir das Haus.

Draußen laufen wir den Weg entlang. In den Wald kann ich nicht. Ich habe es Ina versprochen. Außerdem bringt es zur Golden Hour nicht wirklich viel. Aber dafür entfaltet das Blumenfeld seine volle Schönheit.

Die Mohnblumen werden von dem goldenen Licht in einen ganz anderen Schein gehüllt. Der Schmerz sticht mir in der Brust, aber der Schimmer hilft mir ihn zu verarbeiten.

Das Licht bescheint die Blütenblätter sanft mit Gold. Die Sonne ist nun statt diesem weißen Licht nun in warmes Gold gehüllt.

Ich finde diese Zeit fast noch schöner als den Sonnenuntergang. Es hat diesen magischen Stich. Schließlich ist das Licht nicht nur golden, die Schatten sind auch viel weicher. Wenn man die Augen schließt, fühlt es sich an als ob ein Schimmer magisch die Haut berührt.

„Atemberaubend, nicht?", frage ich meinen Bruder sanft. „Also ich kann noch atmen", witzelt er. „Ha ha du bist ja so lustig", erwidere ich sarkastisch. „Ach komm. So schlecht war der gar nicht", gibt er gespielt beleidigt zurück.

„Du hast recht. Er war nicht schlecht. Er war katastrophal", erwidere ich nun etwas besser gelaunt. „Boar, du bist so fies", kommt es zurück, „Aber ich habe dich trotzdem lieb." „Ich habe dich auch lieb Leo", sage ich.

„Du bist der beste Bruder den man haben kann. Danke für alles", flüstere ich plötzlich. „Ach Flo. Ich werde auf dich aufpassen. Das kann ich dir versprechen", antwortet er. „Ich auch auf dich", entgegne ich.

„Wir werden das zusammen durchstehen. Und Papa wird wieder gesund. Anscheinend hat es ihn schlimm erwischt. Aber das wird wieder", erläutert mir Leonardo. Ich finde, er macht das wirklich gut, aber jetzt muss ich schon wieder a den Unfall meines Vaters denken. Automatisch verändert sich meine Stimmung. Ich konnte es für wenige Minuten einfach vergessen, doch nun überrollt es mich schlagartig.

„Ich glaube, es wäre besser, wenn wir wieder nach Hause gehen", sage ich deprimiert. „Habe ich etwas falsches gesagt?", fragt er mich. „Nein. Ich finde es nur etwas kalt", lüge ich. Obwohl, wie ich drüber nachdenke, ist es nicht einmal gelogen. Es ist, als hätte sich ein kaltes Tuch um mein Herz gelegt.

„Hey, tut mir echt leid, falls ich dir weh getan habe", entschuldigt sich Leo. „Wirklich. Mir ist nur kalt. Außerdem wird es dunkel. Wir sollten wirklich nach Hause gehen", tröste ich ihn. Ich möchte einfach nur noch in mein Bett und zu meinem Kissen.

„Einverstanden. Lass uns nach Hause gehen", entscheidet er, „Ich dachte nur, dass du herkommen wolltest." „Wollte ich auch. Aber nun ist die goldene Stunde vorbei. Das wollte ich sehen, nichts anderes", erzähle ich ihm nun nörgelnd. „Achso, verstehe", kommt es zögernd zurück.

Wir laufen wieder zurück. Die frische Luft tut gut. Obwohl ich wahrscheinlich das Zimmer mit der besten Luft im ganzen Haus habe. Schließlich lüfte ich fast ununterbrochen, da ich den Wind und die Geräusche der Natur. Trotzdem ist draußen immer noch die frischeste Luft. Und die kann ich nur genießen. Es hilft mir, meinen Geist und Seele zu stärken. Ein wahres Geschenk der Natur.

Bedacht berühren meine Schuhe die Fußmatte vor unserem Haus. Mein Bruder schließt die Tür auf und wir treten in das kleine Haus ein. „Et Voilà, willkommen zuhause!", ruft mein Bruder mir entgegen. Dafür erntet er von mir ein klitzekleines Lächeln. „Merci, grand frère!", entgegne ich ihm grinsend. „Ton français est vraiment bon", bekomme ich zurück. „Eh, was heißt das?", frage ich aufgeschmissen. Mein Französisch ist nicht wirklich gut. „Das heißt: Dein Französisch ist wirklich gut", übersetzt Leonardo. Ach verstehe. Genau das hätte ich auch gedacht. Ist ja nicht so, als hätte ich wenige Sekunden zuvor gemeint, dass es nicht wirklich gut sei.

„Aber willst du jetzt noch herein kommen oder eher Französisch quasseln?", unterbricht mein Gegenüber meinen Gedankengang. „Wir können ja beides machen", schlage ich ihm mit einem kleinen Grinsen vor. „D'accord, mais je ne sais pas si tu comprendras tout", kommt es ebenfalls grinsend zurück. Dafür bekommt er von mir einen verlorenen Blick. „Und was heißt das?", frage ich. „Viel Spaß beim Herausfinden!", kommt es amüsiert zurück.

Mit einem dicken Fragezeichen über dem Kopf gehe ich ins Haus. Ich denke zwar immer noch an Papa. Aber ich habe Leonardo. Und Hoffnung. Darum werde ich auch diese Phase meines Lebens überbrücken. Schließlich muss ich es nicht allein.
Der Schmerz wird mir weiterhin in meinem Brustkorb stechen. Aber ich werde es schaffen.

Mein Vater wird gesund und mit einem Lächeln wiederkommen.

The Endless Forest Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt