15. Die Geschichte der Hexe

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Hexe... von Seoul...?
Diese Worte hallen immer und immer wieder in deinem Kopf nach. Du starrst die kleine Frau an, die dort vor dir steht und deinen Blick erwidert.
Du wusstest, dass es Hexen gibt. Aber du hast nie für möglich gehalten, einmal auf diese Weise einer solchen zu begegnen. Ehrlich gesagt hast du angenommen, dass sie wie die Werwölfe von der Bildfläche verschwunden seien. Doch scheinbar hast du dich geirrt.
Du betrachtest die Hexe vor deiner Nase nun noch eingehender. Nun, die Klischees erfüllt sie eher... nicht. Außer man stellt sich Hexen in dunklen Hoodies und enger Leggings vor. Die Haare der Frau scheinen schwarz zu sein, aber in dem Dämmerlicht des nächtlichen Waldes kannst du es nicht genau bestimmen. In einem dicken Flechtzopf fällt es ihr über den Rücken. Auch ansonsten macht sie einen recht gewöhnlichen Eindruck, mal davon abgesehen, dass du ihr mitten in der Nacht in einen Wäldchen begegnet bist. Das einzige was sie verrät, sind die gelblich schimmernden Augen. Sie sind seltsam reflektierend, wie die Augen einer Katze. Und... irrst du dich? Oder sind ihre Pupillen wirklich schlitzförmig?
Nach einer Weile bricht sie das Schweigen. ,,Mein Name lautet Junjae. Ich bin die wohl letzte Hexe im Umkreis von Seoul. Und ich kenne dich. Zumindest deine Herkunft. Mooshang-Rudel, vor etwa zwanzig Jahren." ,,Aber ich bin...", versuchst du sie zu unterbrechen, aber sie ist schneller. ,,Ist mir schon klar. Damals warst du nur ein paar Jahre alt, wie alt genau weiß ich nicht. Aber ich begegnete deinen Geburts-Rudel. Zu der Zeit war die Jagd auf Werwölfe am abklingen, jedoch fanden noch immer großangelegte Jagdpartien statt. Dein Rudel war gerade entlarvt worden, ich wurde zu dorthin gebracht, mit der Aufgabe, die jüngsten Welpen dort in Menschen zu verwandeln und ihren Wolf zu unterdrücken. Ich wollte mich wehren, so etwas verstößt gegen die Natur und ihre Ordnung. Aber ich hatte keine Wahl. Du kannst dir sicher denken, wie er mich bedroht hat. Meine Schwester war damals kaum fünf Jahre alt, mein Vater und meine Mutter beide ermordet worden. Ich hatte nichts mehr außer ihr. Mit seinem Messer an ihrer Kehle musste ich euch verwandeln und mit dem Zauber belegen. Doch vor sechzehn Jahren brach er sein Versprechen. Er brauchte mich nicht mehr, darum erwartete ich, dass er mir meine Schwester nun überließ. Doch das tat er nicht. Er er tötete sie, vor meinen Augen. Damals bin ich geflohen, doch ich kam zurück. Ich ertrug es nicht, diesem Ort fernzubleiben. So kann ich ein Auge auf diejenigen haben, die meiner Schwester das angetan haben. Ich hoffte außerdem, einige der Welpen die ich verfluchen musste, zu finden, aber ich konnte es nicht. Warum, weiß ich selbst nicht. Viele von euch wurden auch in andere Städte gebracht. Ich denke, sie wollten euch voneinander fernhalten, genaues weiß ich nicht. Auch nicht, warum sie euch überhaupt am Leben ließen. Aber ich habe dich nie vergessen. Weil du das einzige Werwolfkind warst das ich kannte, welches ich nie verflucht habe." An dieser Stelle reißt du die Augen auf, doch die Hexe spricht weiter, einfach weiter, als brenne ihr das alles schon seit vielen Jahren auf der Zunge. Was vermutlich auch stimmte. ,,Deine Eltern haben versucht dich zu beschützen, aber sie wurden ermordet. Mir wurde aufgetragen, dich zu verfluchen, wie schon so oft. Doch ich beschloss an diesem Tag, mich ihnen nicht zu beugen. Es war riskant, aber du warst in Menschengestalt, was ungewöhnlich für dein Alter war. Somit konnte ich die Leute täuschen, für die ich arbeiten musste. Ich gab dir das Wissen das du brauchtest, um dein Geheimnis zu schütze. Ein nützlicher, aber enorm energieraubender Zauber. Es ging gut. Sie nahmen dich zwar trotzdem mit, aber ich musste dich nicht verfluchen. Doch seit diesem Tag konnte ich den Zauber, der das Wissen gab, nicht mehr aussprechen. Ich hatte die mein Wissen übertragen und konnte es kein zweites Mal. Damit hatte ich nicht gerechnet, und ich konnte kein anderes Wolfskind mehr vor seinem Schicksal bewahren. Es brach mir das Herz. Aber damals hatte ich noch Hoffnung für meine Schwester. Bis zum heutigen Tag habe ich mich gefragt, was aus dir geworden ist. Ich habe dich eben nicht gleich erkannt, aber jetzt bin ich mir sicher."
Eine ganze Weile bleibt es still. Nur das leise Tschirpen einer Grille ist zu hören. Dein Kopf summt. Dein Verstand weigert sich noch, all diese Informationen zu verarbeiten. Wie gelähmt stehst du da, dein Wolfsgebiss noch immer sichtbar. Dein Gehirn scheint vergessen zu haben, wie man einfache Bewegungen ausführt, du kannst dich keinen Millimeter rühren. Die Worte springen in deinem Schädel herum. Einzelne blitzen hervor.
...Mooshang-Wolf...
...großangelegte Jagdpartien...
...jüngste Welpen in Menschen verwandelt...
...Schwester kaum fünf Jahre alt...
...seinem Messer an ihrer Kehle...
...brach er sein Versprechen...
...viele von euch auch in andere Städte gebracht...
...einzige Werwolfkind das...
...Welpen, die ich verfluchen musste...
...aber sie wurden ermordet...
...mich ihnen nicht zu beugen...
...enorm energieraubender Zauber...
...kein zweites Mal...
...vor seinem Schicksal bewahren...
...brach mir das Herz...
Langsam blinzelst du. Deine Gedanken spielen noch immer verrückt. Schließlich fragst du mit heiserer Stimme:,,Wer war es? Für welche Leute hast du gearbeitet?" Die Hexe sieht dich ernst an. ,,Ich weiß es nicht. Ehrlich, ich habe diese Leute nie wieder gesehen. Und ihre Anführer trugen Masken und Geruchsabwehrer. Ich konnte also weder ihre Gesichter sehen, noch ihren Geruch aufnehmen. Hexen haben zwar auch einen starken Geruchssinn, aber nicht so dass ich über die Abwehrer etwas hätte wahrnehen können." Du nickst langsam. Noch immer schwirrt dir der Kopf. Dann fragst du die wohl offensichtlichste Frage. ,,Also hast du... die anderen... gebannt? Verflucht?" Junjae nickt traurig und blickt zu Boden. ,,So ist es. Und ich bin sehr traurig darüber, dass ich es getan habe." Dann sieht sie auf. ,,Dein Rudel. Wie habt ihr es geschafft, euch all die Jahre geheim zu halten?" Du seufzt, scheinbar ist es nun dein Zug zu erklären. ,,Das haben wir nicht. Wir haben uns erst vor etwas über zwei Monaten gefunden. Damals waren sie noch... gebannt, schätze ich. Doch der Fluch scheint sich durch die Berührung eines verwandelten Wolfs zu lösen." Erstaunt blickt die Hexe dich an. ,,Wirklich? Das wusste ich nicht einmal. Aber es macht Sinn... auf eine seltsame Weise. Aber bitte, erzähle mir doch jetzt von dir. Ich möchte wissen, wie es all die vergangenen Jahre für dich gewesen ist. Und natürlich was die letzten Monate war. Es scheint einiges zu geben, das ich nicht weiß." Du seufzt tief, nickst und gehst hinüber zu dem niedrigen Ast, auf welchen Junjae vorhin noch saß. Die Hexe folgt dir. Du ziehst endlich dein Wolfsgebiss zurück und beginnst zu erzählen. Von den vergangenen Jahren, wie du deine Heats überstanden hast, den Alpträumen von deinen Eltern, von dem Morgen, als alles aufgeflogen ist und alles, was seitdem passiert ist.

How the Stray kids pack came aboutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt