《• Epilog •》

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- 2024 -

"Mama, ich will mit Baba gehen", quengelt die Vierjährige mit den großen, runden Augen und den wilden Locken. Sie trägt ein hübsches, hellblaues Sommerkleid und guckt mit einem Dackelblick nach oben, dem niemand wiederstehen kann.

Niemand, schon gar nicht ihr Vater.

"Lass sie doch", lenkt er sofort ein und streckt seine große Hand aus, um nach ihrem kleinen Patschehändchen zu greifen. "Komm, Nour."

Begeistert quietscht sie, lässt sich von ihrem heiß und innig geliebten Vater an die Hand nehmen und folgt ihm in den kleinen Späti in unserem alten Kiez.

Seit wir umgezogen sind, sind wir nur noch selten in unserer alten Gegend.

Heute gehen wir jedoch meine Eltern und Lamiya besuchen, und auf dem Weg dahin haben wir uns entschlossen, einen kleinen Spaziergang über die Sonnenallee zu machen, um endlich mal wieder das altgeliebte Flair der belebten Straße aufzusaugen.

Ich lehne mich über den schwarzen Kinderwagen, streiche der Anderthalbjährigen liebevoll eine Locke aus dem Gesicht und küsse sie auf die Wange. Sie ist das Ebenbild ihrer Schwester und nuckelt zufrieden an ihrem Schnuller.

"Schatz, darf Dua auch so einen?", ertönt es hinter mir und ich fahre herum. Er ist mit dreißig Jahren noch genauso durchtrainiert und drahtig wie mit achtzehn, auch wenn man das unter dem weiten, schwarzen Shirt und der Jeans nur erahnen kann. In der rechten Hand hält er einen blauen Chupa Chups und sieht mich fragend an. Ich nicke und er verschwindet wieder in dem kleinen Kiosk.

Als ich aufblicke, steht plötzlich eine bekannte Gestalt vor mir und lächelt mich freundlich an. Die vielen Sommersprossen lassen ihn seit jeher jünger aussehen, als er ist. In seinem braungebrannten Gesicht stechen die hellbraunen Augen hervor, sein kurzer Bart ist gepflegt, die dichten Haare unter einer Cappy versteckt.

"Nael", stelle ich erfreut fest und umarme ihn zur Begrüßung.

"Was macht ihr denn hier?"

"Wir sind auf Familienbesuch", lächele ich.

Er wirft einen verzückten Blick in den Kinderwagen, auf die kleinere meiner beiden Töchter. "Maschallah, sie ist so groß geworden. Und so hübsch wie ihre Mami. Wie alt ist sie jetzt? Zwei?"

Es gab eine handvoll Aufeinandertreffen in den letzten Jahren und immer habe ich mich gefreut, Nael zu sehen. Wir quatschen kurz, bringen uns gegenseitig auf den neuesten Stand und gehen dann jeder wieder unserer Wege. Genauso, wie heute.

Auch wenn ich einst dachte, Nael sei meine große Liebe - er war es nicht. Er wird für immer einen besonderen Platz in meiner Geschichte haben, aber nicht in meinem Leben.

"Noch nicht ganz. Sie hat erst im Dezember Geburtstag", antworte ich und lächele meiner süßen Dua zu.

In dem Moment tritt er hinter mich, gibt seiner kleinsten Tochter den ausgepackten Lutscher, den er für sie gekauft hat, verstaut die zwei Dosen Cola in dem Korb des Kinderwagens, um die Hände freizukriegen und reicht dann meinem Gesprächspartner zur Begrüßung die Hand.

"Nael, keefak?"

Der Libanese nimmt seine Hand und schüttelt sie kurz. Die beiden sind keine Freunde, doch sie erweisen sich mir zu Liebe gegenseitig den nötigen Respekt.

"Alhamdulillah", antwortet er lächelnd. "Und dir, Essad?"

"Alhamdulillah", gibt er zufrieden zurück. "Viel Arbeit, und die beiden Mäuse hier halten uns gut auf Trab. Wie läuft es bei dir?"

Sein Blick gleitet liebevoll zu Nour, die ihm nun ihren Lolli hinhält, damit er ihn öffnet. "Kannst du den bitte aufmachen, Baba?"

Er nickt ihr zu und beginnt, die Plastikfolie aufzuknibbeln.

"Ganz gut. Ich bin ein halbes Jahr durch Westasien gereist; Iran, Irak, Kurdistan, Syrien und Palästina. Jetzt verbringe ich den Sommer mit meinen Eltern in der Heimat und schaue mal, wo es mich danach hintreibt."

"Mein Papa kommt aus Palästina", erklärt Nour stolz. "Der ist Boxer, weißt du?"

Nael schmunzelt und wirft mir einen flüchtigen Blick zu. "Das weiß ich. Ich kenne deinen Papa schon ganz lange. Wir sind damals alle zusammen zur Schule gegangen, dein Papa, deine Mama, dein Onkel Zayn, deine Tante Yara und ich."

Ihre Augen weiten sich. "Das ist wirklich schon sehr lange her."

Wir müssen alle drei lachen. Auch wenn unsere Schulzeit erst zehn Jahre zurückliegt, hat Nour Recht damit, wenn sie sagt, dass es sich wie eine Ewigkeit anfühlt, so viel wie passiert ist.

Essad hat nach dem Schulabschluss seine Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann gemacht, ich habe mich gegen eine Lehre entschieden und stattdessen Soziale Arbeit studiert. Als Essad ausgelernt war, haben wir geheiratet und uns eine kleine Wohnung gesucht. Relativ zeitnah nach meinem Bachelor bin ich mit Nour, unserer ersten Tochter, schwanger geworden. Zwei Jahre darauf kam Dua, unsere zweite Tochter, zur Welt. Keine Söhne mit Namen der Propheten, wie Essad es sich einst am Strand gewünscht hat, doch er könnte kein glücklicherer Vater sein: seine Töchter vergöttern ihn, genauso wie ich.

Wir leben in Kreuzberg, in einer schönen, großen Wohnung mit eigenem Garten, der den Mädels viel Platz zum Spielen und Toben bietet. Essad hat hier seinen Boxclub eröffnet, indem er zum einen aufstrebende Talente trainiert, zum anderen seiner Herzensangelegenheit nachgeht und Jungs versucht, mit der Liebe zum Sport von der Straße zu holen und ihnen eine Perspektive bieten. Um letzteres auszubauen, hat er mich nach meiner ersten Schwangerschaft gefragt, ob ich nicht für ihn arbeiten möchte. Seitdem unterstütze ich ihn ein paar Stunden in der Woche, kümmere mich um die Jugendlichen und bin eine Anlaufstelle für ihre vielseitigen Probleme.

Nael schlägt bei Essad ein und nickt ihm zu. "Ich muss mal weiter, pass gut auf die drei auf." Er wendet sich zu mir und umarmt mich. Er riecht noch immer nach Dior Sauvage, das hat sich nicht geändert. Ich hingegen rieche nach Invictus von Paco Rabanne, Essads schwerem Duft, der mich Tag für Tag einhüllt und kaum mehr von meiner Haut geht. "Machs gut, Nael."

Er läuft davon und wir setzen unseren Spaziergang fort.

"Er sah gut aus", stellt Essad fest und legt seinen freien Arm um meine Taille, während seine andere Hand mit Nours kleinen Fingern verschränkt ist.

"Voll. Er hat sich selbst gerettet und ist nie wieder rückfällig geworden."

"Du zum Glück auch nicht", scherzt er, zwinkert mir zu und küsst mich dann auf die Wange.

Ich winke ab. "In diesem Leben wirst du mich nicht mehr los."

Essad hat immer zur mir gehalten und mich nie im Stich gelassen. Er hat mich an jedem vergangenen Tag auf Händen getragen, selbst bei keinem unserer ohnehin sehr seltenen Streits den Respekt vor mir verloren, meist nicht mal die Ruhe. Er ist der Mann, den ich mir immer gewünscht habe.

Er ist meine große Liebe.

"Inschallah."

Er zieht mich an sich und küsst mich liebevoll. Ich schließe die Augen und schmiege mich an ihn.

Mitten im Trubel der Hauptstadt blende ich alles aus und bin ganz in dem Moment. Seine Nähe lässt jeden Lärm verstummen, jedes Problem verblassen, allen Ärger verschwinden.

Essad gibt mir Frieden, nun schon seit zehn Jahren, und ich hoffe er wird es auch noch bis an mein Lebensende tun.

《.ENDE.》

Süß wie Baklava Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt