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- 2011 -

"Komm schon, Zayn, stell dich nicht so an. Yara ist auch im JuZe, du brauchst dich also nicht um mich zu kümmern. Wir gehen zusammen dahin, du verbringst Zeit mit deinen Kollegen und später nimmst du mich halt wieder mit nachhause." Aus meinen runden, braunen Augen schaue ich meinen älteren Bruder mit einem Dackelblick hoffnungsvoll an.

"Shalia, du nervst", kommentiert er mit konzentriertem Blick auf seinen kleinen Flachbildschirm, auf dem die winzigen Spieler bei FIFA geschäftig über den Rasen rennen, den Playstation-Controller fest in seinen beiden Händen verankert.

"Ich kann nichts dafür, dass Mama und Baba mich nicht alleine gehen lassen", quengele ich weiter und will mich neben meinen Bruder auf sein schmales Bett setzen, um ihn weiter zu bequatschen, als dieser blitzschnell meinen Hintern mit dem Fuß wegschiebt.

"Shaliaaa", nörgelt er genervt. "Hast du schonmal mitbekommen, dass Nael ständig Babysitten muss?"

"Nael hat auch nur einen großen Bruder", halte ich trotzig dagegen.

Zayn verdreht seine schwarzbraunen Augen. Er sitzt in einem grauen Jogginganzug von Nike auf seinem Bett, welches mit Bettwäsche seines Lieblingsvereins Real Madrid bezogen ist. Hinter ihm an der Wand hängt passend dazu ein Cristiano Ronaldo Poster in Lebensgröße.

Ich kenne niemanden, der Fußball mehr liebt und lebt als Zayn. Er trainiert jeden Tag, spielt in der erfolgreichen Jugendmannschaft von Union Berlin und bereits seit seinem fünfzehnten Lebensjahr für die libanesische Jugend-Nationalmannschaft. Er ist richtig bekannt in seiner Bubble, hat Sponsoren und arbeitet hart dafür, nächstes Jahr mit achtzehn den Schritt in den Profifußball zu schaffen und seinen Lebensunterhalt mit seiner Leidenschaft verdienen zu können.

"Aber Essad hat eine kleine Schwester und Jibrail gleich zwei und die bringen die Mädels auch nicht ständig mit."

"Jibrails Schwestern sind beide noch in der Grundschule und Essad.." "Khallas", fällt Zayn mir genervt ins Wort.

"Wenn du mich dann endlich in Ruhe lässt, nehme ich dich gleich mit, du Nervensäge", verspricht er und wirft mir einen grimmigen Blick zu, bevor er sich wieder seinem Videospiel widmet.

Triumphierend lächele ich.

"Sei in einer halben Stunde fertig. Wir holen Nael ab und laufen zusammen zum JuZe."
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Gegen 16 Uhr hält Zayns bester Freund Nael mir höflich die Metallverstärkte Glastür des Jugendzentrums auf, das bei allen nur JuZe, ausgesprochen wie das englische Wort Juice, genannt wird. Es liegt mitten im Herzen des sozialschwachen Berliner Stadtteils Neukölln.

Neukölln ist besonders für sein multikulturelles Flair bekannt. Die geschäftigen Straßen des Bezirks sind von orientalischen Bäckereien und Supermärkten gesäumt. In den Seitenstraßen liegen Secondhandläden, Bars und Cafés sowie viele Studenten- und Künstlerwohnungen.

Doch so romantisch das klingt, Neukölln kann auch anders.

Laut Polizeistatistiken ist Neukölln der viert gefährlichste Bezirk Berlins. Das Spektrum reicht von einer rechtsextremen Szene bis zur Clan-Kriminalität, dazwischen viele sozial schlechter gestellte Menschen, auch die Kinder- und Jugendkriminalität ist überdurchschnittlich hoch.

Hier im JuZe kommen alle zusammen: die Gastarbeiterkinder, die Kriegsflüchtlinge, die Kinder, deren Eltern bereits in der zweiten oder dritten Generation Hartz4 beziehen, die viel zu jungen Obdachlosen, die von Geburt an Benachteiligten und von der Gesellschaft ausgegrenzten. Hier sind alle gleich, reden und lachen miteinander, spielen Kicker oder Billard. Man kann für ein paar Cent Getränke kaufen und kostenlos ein warmes Mittagessen oder Hilfe bei den Hausaufgaben bekommen. Außerdem gibt es regelmäßig coole Veranstaltungen wie Workshops, Kinoabende oder Jugenddisco.

Süß wie Baklava Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt