32: Ritual

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Am nächsten Morgen steige ich, wie Wei Ying es mir  befohlen hat, noch einmal hinab und der Anblick ist ekelerregend. Nicht auf direkter Ebene, aber je länger ich den Prozess verfolge, desto widerlicher wird es für mich. 
Jin Ling liegt blass in Wei Yings Armen und sie beide haben die Augen geschlossen. Während Jin Ling bewusstlos ist (So wie es sein sollte, erklärt mir Wei Ying, die Schmerzen, will er nicht haben.), öffnet Wei Ying öfters die Augen und erneuert den Kreis aus Beschwörungsformeln um sie herum. Da fällt mir die Leiche auf, die neben ihnen liegt. Es ist Xiao Xingchen Körper und er sieht überhaupt nicht tot aus. Woher sie sie haben, weiß ich nicht und ich will es auch nicht wissen. Wei Ying redet nicht mit mir und ist kurz davor wegzunicken. Aber den Prozess unterbrechen ist gefährlich, gefährlicher als ihn zu beenden. 

Ich bleibe den halben Tag unten in den Grabhügeln, bis ich wieder zurück auf den Berg steige und Wache halte. Die Sonne geht unter und sie geht wieder auf und wieder unter. Kein Lebenszeichen. Wieder sehe ich nach, was los ist. Die Situation hat sich kaum verändert. Ein goldener Faden hat sich zwischen Jin Ling und Xiao Xingchen gebildet und Jin Ling stöhnt vor Schmerz auf. Die Schwaden an Seelen, haben sich um die beiden gesammelt und Wei Ying hält sich die Ohren zu, um nicht wahnsinnig zu werden. Ich will ihn berühren und ihn versprechen, dass alles gut wird, aber es ist eine Lüge. So wie es jetzt aussieht, wird es nicht gut ausgehen. 
Überhaupt weiß ich nicht, was ich im Notfall machen soll. Der Weg zurück nach Yi City dauert einen halben Tag und der nächste große Clan ist unter Xue Yangs Kontrolle. 
Unsere einzige Hoffnung ist Xiao Xingchen. Ursprünglich will ich länger bei den beiden bleiben, doch ich halte es nicht aus. Die Stimme drängen in meinen Verstand ein und ziehen mich in ihre kalte Welt. Ich kann ihre Hände nach mir greifen sehen. Spindeldürre knochige Hände, kalt und tot. Sie greifen nach meinen Bewusstsein, meiner Seele und bevor sie mich bekommen, reiße ich mich panisch los und flüchte mich auf die sichere Bergspitze und setze Wei Ying und Jin Ling wieder dem Unbekannten aus. 

Wei Ying hat mich dem Unwissen überlassen. Weder weiß ich, was der Ablauf ist, noch was normal ist und wann ich eingreifen muss. Es macht mich fast genauso verrückt, wie die Toten, die nach den Lebenden greifen wollen. Diese arme Seelen, die niemals ihre Rache bekommen werden. Sie haben nur dieses Verlangen, sie sind böse, weil sie es sein müssen. 
Nachts finde ich keinen Schlaf. Ich werde von Visionen heimgesucht. Die raschelnden Blätter und die hohen kahlen Baumkronen, nehmen Gestalt an und werden lebendig. Der Tod und das Verderben schleichen sich nachts ein; meine Ängste manifestieren sich in die Realität. Ich kann sie anfassen und spüren und riechen so stark ist meine Furcht. 
Vielleicht drehe ich auch durch, weil ich seit drei Tagen keine Menschenseele mehr gesehen habe (die Toten mal ausgeschlossen). Oder weil ich weder geschlafen noch gegessen noch getrunken habe. 
Der Drang wegzurennen steigt in mir auf. Ich will damit nichts zu tun habe. Ich will lieber mit Unwahrheiten leben, als mit dem Schmerz. Mir stehen alle Wege frei, doch ich bringe es nicht über mich. 

Ich bin in einer Zeitschleife gefangen und kann ihr nicht entkommen. Alles zieht sich zusammen und nach der wievielten Nacht (?) kann ich Tag und Nacht nicht mehr auseinanderhalten. Hat sein Leiden irgendeinen Zusammenhang mit meinen? 
Irgendwann steige ich noch einmal ab und Jin Ling wirft sich auf den Boden umher, um die Schmerzen aushalten zu können. Wei Ying meditiert neben ihm. Er sieht nicht auf, als ich mich ihnen nähere. Das ist auch nicht nötig. Ich will nur versichert sein, dass er noch lebt und mir mein Kopf nicht wieder Streiche spielt. Ich berühre ihn sacht an seiner Schulter. Seine Haut ist eiskalt, es ist als wäre er tot. 
Dieser Gedanken in Zusammenhang mit den aufdringlichen Seelen ist gefährlich und ich stolpere ein paar Schritte zurück, um meine Fassung zurückzugewinnen. Der Himmel über mir ist pechschwarz, plötzlich kann ich die eigene Hand vor Augen nicht mehr sehen. War es nicht gerade hell? Ich bin dermaßen krank geworden, dass die Stunden in Sekunden vergehen?
Ich drücke meine Lider fest zusammen und diesmal ist es hell. Oder eine optische Täuschung? Ich werde panisch und schaue zu Wei Ying herüber, der noch immer ruhig meditiert. Der goldene Faden zwischen Jin Ling und Xiao Xingchen Körper ist stärker und dicker geworden. Er hat die Dicke  von einem Seil. Ich gehe darauf zu und beobachte, wie er durch die Luft wabert, unstabil und zerbrechlich. 

Die kahlen toten Bäumen wiegen sich im Takt auf und ab. Ein Wind nach dem anderen rauscht. Seit wann kommt bis hierhin Wind?, frage ich mich und runzele die Stirn. 
Der einzige Grund, weshalb ich noch halbwegs bei Sinnen bin, ist meine Hoffnung, dass es nicht schiefgehen wird. Das wir mithilfe von Xiao Xingchen Xue Yang besiegen können. 
Ich warte und warte, bis ich spüre, wie sich alles beginnt zu drehen. Nicht zusammenbreche, denke ich mir, sonst kommen sie. 
Jeder hält mich immer für stark, für einen der stärksten Kultivierenden unserer Zeit, aber ich kann schwach sein. Die Wahrheit ist, die meiste Zeit über bin ich schwach und nutzlos. Die meiste Zeit verbringe ich damit Geschäften nachzugehen oder wie jetzt, einem Ziel näherzukommen. Es liegen Welt zwischen mir und diesem Ziel. Wie soll man etwas zurückbringen, dass bis in sein Fundament tot ist? Das kann nicht gutgehen. Er wird nicht der sein, über den so viel Gutes erzählt wird. Außerdem ist der Mörder seiner eigenen Lehrerin, die ihn alles beigebracht hat, wofür er bekannt war. 
Sein Sanftmut, die Disziplin, die Techniken. Er hat das alles von ihr und hat sie umgebracht. Plötzlich will ich ihn nicht wieder bei uns haben. Die Vergangenheit soll in der Vergangenheit bleiben. Wir machen sie zur Gegenwart. Erst Xue Yang und dann Xiao Xingchen. Die Toten aufzuwecken ist niemals eine gute Idee, aber weder Wei Ying noch die restliche Kultivierungswelt scheint das zu kümmern. Wei Ying ist außerdem tot gewesen, so tot, dass keiner an seine Rückkehr geglaubt hat. 
Wo sie eigentlich seine Krieger, die er mit genommen hat? Sind sie zurückgekehrt. Warten sie in den Wald auf mein Signal? 
Mein Kopf wird wieder klarer. Die Stimmen weichen von mir und geben mir den Weg zu meinen Kern wieder frei. 
Mein Körper ist ausgetrocknet und ausgehungert und an der blassen gelblichen Hautfarbe, die Jin Ling und Wei Ying haben, übertrage ich diese Feststellung auch auf sie. 

Wie lange noch? Ich hocke mich neben Wei Ying auf den Boden und sehe in den Himmel. Diesmal ist und bleibt er klar und hell. Ein paar Wolken schieben sich vor die Sonne und ziehe nach einiger Zeit weiter. Ich werde müde, meine Gelenke sind ausgeleiert und verspannt, aber wenn ich einschlafe, werde ich nie wieder aufwachen. Die Wärme die mich überkommt ist so verlockend und einladend, doch immer wenn ich fast einschlafe, stehe ich auf und gehe eine Runde um die Beschwörungsformel, die verbleicht und ausgewaschen vom letzten Regen sind. 
War ich so lange hier, dass es geregnet hat? 
Am Liebsten würde ich jetzt an den großen See in Yumeng sitzen und die Lotusblüten beobachten, wie sie sich entfalten und wieder in sich zusammenfallen, wie tausend Jahre vergehen und die Natur sich über die Ruinen hermacht. Meine Gedanken werden wieder wirr. Ich schüttele den Kopf, denn das hilft mir die Gedanken abzuschütteln und gehe von einem Fuß auf den anderen. Irgendeine Ablenkung, egal welche. Ich ziehe Bichen, schleife es und stecke es wieder in die Scheide und anschließend säubere ich mein Guqin. Ich fasse mir ans Stirnband, um meine Energie etwas zu regulieren und prüfe sowohl Wei Yings und Jin Lings Puls nach. Beide sind stabil, aber an ihren schwachen Atem, kann ich sehen, dass sie sehr geschwächt sind. Besonders Jin Ling. 

Nach mehreren Stunden öffnete Wei Ying langsam seine Augen und blickt sich um. Er scheint verwirrt zu sein und als er mich sieht öffnet er den Mund zu einem fragend o.
Jin Ling fällt von einer Sekunde zur nächsten einfach in sich zusammen und rührt sich nicht mehr. Ich eile zu ihm und überprüfe, seine Werte. Es geht ihm gut, abgesehen von seinem fehlenden Kern und wie geschwächt er körperlich und geistig ist. 
"Gleich-", setzt Wei Ying an und hustet. Er würgt und spuckt auf den Boden. Als ich genauer hinsehe, erkenne ich Blut. Er hat innere Verletzungen. "Gleich wird er aufwachen. Xiao Xingchen." Schwer atmend drückt er sich vom Boden ab und verzieht das Gesicht schmerzverzerrt. Ich helfe ihn auf und er lehnt sich an mich. 
"Und Jin Ling?"
"Er wird sich erholen, in ein paar Tagen wird er wieder auf den Beinen sein. Nur ohne Kern", antwortet Wei Ying mir und starrt ungeduldig auf Xiao Xingchen. 
Über uns sammeln sich dicke große Wolken an. Gleich wird es regnen. Und tatsächlich beginnt er zu Atem, erst flach und dann immer schneller, bis er sich aufsetzt und den Boden abtastet. 
"Es hat geklappt", sagt Wei Ying von sich selbst überrascht und löst sich von mir und geht auf wackligen Beinen zu ihm. "Wie ist dein Name?", fragt Wei Ying ihn. 
"Xiao Xingchen."

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Again and Again - WangXian[ABGESCHLOSSEN]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt