bergauf

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Toni saß am Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Die Straßenlaternen tauchten die Welt draußen in ein sanftes, orangefarbenes Licht, aber in ihrem Inneren fühlte sie nur Dunkelheit. Seitdem sie die Entscheidung getroffen hatte, Phil anzurufen, war etwas in ihr gebrochen. Nicht im negativen Sinne, eher wie eine Mauer, die sie seit Monaten aufrechterhalten hatte, die nun langsam, aber sicher einzustürzen begann.

Phil war tatsächlich nach wenigen Minuten bei ihr gewesen, so wie er es versprochen hatte. Er war wortlos in ihr Zimmer gekommen, hatte sich zu ihr gesetzt und einfach nur ihre Hand gehalten. Keine großen Reden, kein Druck, sondern nur dieses stille „Ich bin hier“. Es war genau das, was sie gebraucht hatte, und sie war ihm so unendlich dankbar dafür.

Dennoch ließ sie das Gefühl der Scham nicht los. Sie fühlte sich schwach, verletzlich und verloren, als wäre sie die Einzige, die mit solchen Gefühlen kämpfte. Der Tumor, das Heim, das Mobbing – all das hatte tiefe Spuren in ihr hinterlassen. Und jetzt, Wochen später, nachdem die akute Gefahr vorüber war, spürte sie, dass der psychische Schmerz stärker wurde.

Toni nahm ihr Handy in die Hand und öffnete ihre Nachrichten. Sie wusste, dass sie mit jemandem reden musste, auch wenn es ihr schwerfiel. Ein großer Teil von ihr wollte sich in sich selbst zurückziehen, alles alleine durchstehen, doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das keine Lösung war. Sie tippte zögernd eine Nachricht an Alex, löschte sie wieder, schrieb sie erneut und löschte sie abermals. Es war so schwer, die richtigen Worte zu finden.

Plötzlich klopfte es sanft an ihrer Zimmertür. Toni zuckte zusammen, als Phil vorsichtig den Kopf durch den Spalt schob.

„Hey, alles okay?“ fragte er leise und trat ein. „Du warst heute den ganzen Tag so still.“

Toni zuckte mit den Schultern. „Geht so,“ murmelte sie. Sie wollte nicht lügen, aber sie wusste auch, dass es keinen Sinn machte, alles zu leugnen. Phil war gut darin, solche Dinge zu bemerken.

„Willst du darüber reden?“ fragte Phil und setzte sich aufs Bett. Er sah sie mit einem Blick an, der deutlich zeigte, dass er sich Sorgen machte.

Toni seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist einfach... alles irgendwie zu viel. Der Tumor, das Schielen, die Schule... und ich habe ständig das Gefühl, dass ich nicht gut genug bin.“

Phil legte den Kopf schief und betrachtete sie eine Weile. „Weißt du, Toni, ich verstehe, dass es sich überwältigend anfühlt. Du hast in deinem Leben schon so viel durchgemacht. Aber du musst dir eines klar machen: Du bist nicht allein. Es gibt so viele Menschen, die dir helfen wollen, aber du musst es ihnen erlauben.“

Toni schluckte und kämpfte mit den Tränen. Sie wollte nicht schon wieder weinen. „Ich weiß,“ flüsterte sie. „Aber es ist schwer. Ich fühle mich manchmal so... kaputt.“

Phil nickte verständnisvoll. „Ich weiß, dass es schwer ist. Und es ist okay, sich kaputt zu fühlen. Aber du bist nicht wirklich kaputt, Toni. Du bist stark. Du hast so viel überstanden, und das zeigt, wie stark du bist. Aber du musst nicht immer die Starke sein. Es ist okay, Hilfe anzunehmen.“

Toni ließ sich auf ihr Bett sinken und legte den Kopf auf die Knie. „Ich habe einfach Angst, dass es nie besser wird. Dass ich nie wieder normal sein werde.“

Phil seufzte leise und rückte näher. „Normal ist so ein merkwürdiges Wort. Was ist schon normal? Jeder von uns hat seine Herausforderungen, seine Kämpfe. Du bist Toni, und das ist das Wichtigste. Nicht, was andere als normal ansehen.“

Toni spürte, wie sich ein kleiner Knoten in ihrem Inneren zu lösen begann. Es fühlte sich gut an, darüber zu reden, auch wenn es noch lange nicht alle ihre Ängste vertrieb. Aber es war ein Anfang.

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Einige Tage später war die WG wieder zur Normalität zurückgekehrt. Toni ging wieder regelmäßig zur Schule und versuchte, sich auf ihre Hausaufgaben zu konzentrieren, aber die dunklen Gedanken ließen sie nicht ganz los. Es gab Tage, an denen sie sich einfach zurückziehen wollte, an denen sie das Gefühl hatte, dass die Welt um sie herum erdrückend und schwer war. Doch sie hatte sich ein Versprechen gegeben – sich selbst und Phil gegenüber: Sie würde nicht mehr alleine durch diesen Schmerz gehen.

Eines Abends, als sie allein in ihrem Zimmer saß, kam Alex herein, ohne zu klopfen. Das tat er manchmal, wenn er spürte, dass etwas nicht stimmte.

„Hey,“ sagte er und ließ sich lässig auf ihren Schreibtischstuhl fallen. „Was machst du so?“

Toni zuckte mit den Schultern. „Hausaufgaben,“ murmelte sie, auch wenn das nicht ganz stimmte. Sie hatte ihr Schulheft offen vor sich liegen, aber ihre Gedanken waren woanders.

„Hausaufgaben?“ Alex zog eine Augenbraue hoch. „Du wirkst eher so, als würdest du gerade in Gedanken versinken.“

Toni konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Alex hatte ein Talent dafür, ihre Stimmungen zu erkennen. „Ja, vielleicht,“ gab sie zu. „Es ist nur... schwierig, alles zu verarbeiten.“

Alex nickte und lehnte sich im Stuhl zurück. „Das glaube ich dir. Du hast so viel durchgemacht in den letzten Monaten, und es ist ganz normal, dass das nicht einfach verschwindet. Aber ich bin stolz auf dich, dass du weitermachst. Auch wenn es schwer ist.“

Toni schwieg einen Moment und starrte auf ihre Hände. „Es ist nur... ich weiß nicht, ob ich jemals wieder ganz okay sein werde. Es fühlt sich an, als wäre ich in zwei Hälften geteilt – die Toni vor dem Tumor und die Toni danach. Und ich weiß nicht, wie ich das zusammenbringen soll.“

Alex schaute sie einen Moment an, dann stand er auf und setzte sich zu ihr aufs Bett. „Weißt du, Toni, du musst nicht sofort alles zusammenbringen. Es ist okay, wenn du Zeit brauchst. Niemand erwartet von dir, dass du plötzlich wieder die Alte bist. Du hast dich verändert, ja. Aber das bedeutet nicht, dass du schlechter oder weniger wert bist. Du bist einfach nur... anders. Und das ist völlig in Ordnung.“

Toni spürte, wie sich ein weiterer Teil ihres inneren Schmerzes löste. Es war schwer, diese Worte zu hören, aber es war auch tröstlich. Vielleicht musste sie nicht perfekt sein. Vielleicht reichte es, einfach nur sie selbst zu sein – mit all ihren Fehlern und Unsicherheiten.

Sie sah zu Alex auf und nickte leicht. „Danke,“ sagte sie leise.

Alex lächelte. „Immer, Toni. Immer.“

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In den nächsten Tagen und Wochen begann Toni langsam, sich besser zu fühlen. Die dunklen Gedanken kamen immer noch, aber sie lernte, sie zu erkennen und mit ihnen umzugehen. Sie sprach öfter mit Phil und Alex, und es half ihr, sich nicht mehr so allein zu fühlen. Es war ein langsamer Prozess, aber Schritt für Schritt fand sie zurück ins Leben.

Eines Abends, als die WG wieder einen Filmabend plante, setzte sich Toni zwischen Alex und Phil auf die Couch. Sie fühlte sich sicher, beschützt, und für einen Moment war all der Schmerz vergessen.

Mut im Schatten (ASDS FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt