die Wahrheit

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Toni sitzt auf dem Sofa im Aufenthaltsraum der Rettungswache, ihre Hände umklammern das Glas Wasser, das Phil ihr gegeben hat. Ihre Gedanken wirbeln chaotisch durch ihren Kopf. Die sanften Stimmen von Phil, Alex und Florian im Hintergrund schaffen es kaum, sie zu beruhigen. Sie hatte immer das Gefühl, dass es ihre Schuld war, wenn Dinge schiefgingen. Sie hatte gelernt, dass sie die Verantwortung trug, egal wie schlecht es ihr ging. Und dieses Mal war es wieder passiert. Sie war krank, konnte nicht zur Schule gehen, und das war nicht nur ein Problem für sie – es brachte Konsequenzen mit sich.

„Toni“, sagt Phil leise, als er sich neben sie setzt, „ich weiß, dass du viel durchmachst. Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst, aber wenn etwas nicht stimmt, wenn dir etwas wehgetan hat, dann sind wir hier, um dir zu helfen. Egal, was es ist.“

Toni zittert noch immer leicht, und ihr Blick bleibt starr auf dem Glas Wasser. Ihre Finger spielen nervös mit dem Rand des Glases. Es dauert einen Moment, bis sie sich traut, ihre Stimme zu erheben, doch dann beginnt sie leise zu sprechen, ihre Worte brechen zwischen Schluchzern.

„Ich… ich war krank“, fängt sie an und starrt auf ihre Füße, die in den abgewetzten Turnschuhen stecken. „Ich konnte nicht zur Schule gehen… und das… das war falsch. Ich weiß, dass es falsch war.“

Phil runzelt die Stirn, tauscht einen kurzen, besorgten Blick mit Alex aus. „Was meinst du, Toni? Es ist doch okay, krank zu sein und sich auszuruhen. Das passiert jedem mal.“

Toni schüttelt heftig den Kopf, ihre Augen füllen sich wieder mit Tränen. „Nicht bei uns. Im Heim… wenn man krank ist und nicht zur Schule geht, dann… dann ist das schlecht. Man muss zur Schule, egal wie. Sonst wird man bestraft.“

Phil spürt, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken läuft. „Bestrafung? Was meinst du damit, Toni?“

„Ich… ich wurde geschlagen“, sagt sie schließlich und drückt die Hände fester um das Glas, als ob sie sich an etwas festhalten müsste. „Ich war krank, aber… das zählt nicht. Wenn man nicht zur Schule kann, ist das…“ Sie bricht ab, unfähig, die Sätze zu beenden. „Ich… es ist meine Schuld. Ich hätte stärker sein müssen.“

Phils Gesicht wird ernst, und er beugt sich leicht vor, um Toni besser anzusehen. „Toni, das ist nicht deine Schuld“, sagt er mit fester, aber sanfter Stimme. „Niemand hat das Recht, dich zu schlagen. Schon gar nicht, wenn du krank bist.“

Toni schüttelt wieder den Kopf, als ob sie diese Worte nicht an sich heranlassen könnte. „Doch… ich hätte einfach zur Schule gehen müssen. Ich bin oft trotzdem gegangen… auch wenn mir schlecht war… weil ich wusste, was passiert, wenn ich zu Hause bleibe. Sie sagen immer, dass man stark sein muss… und ich war zu schwach.“

Phil spürt, wie sich Wut in ihm aufbaut – nicht auf Toni, sondern auf das System, das sie in diese Situation gebracht hat. Er setzt sich näher zu ihr und spricht leise, um sie nicht weiter zu erschrecken. „Toni, das, was sie dir angetan haben, ist falsch. Es gibt keinen Grund, warum du dich schuldig fühlen solltest. Du bist nicht zu schwach. Du hast versucht, stark zu sein, in einer Situation, die nicht fair war.“

Alex, der bis jetzt im Hintergrund stand, tritt vor und kniet sich vor Toni hin. Seine Augen sind warm und mitfühlend. „Toni, du bist nicht allein. Du musst das nicht mehr durchmachen. Wir können dir helfen, dafür zu sorgen, dass dir das nie wieder passiert.“

Toni hebt zögerlich den Blick. „Aber… was, wenn sie rausfinden, dass ich was gesagt habe? Ich hab Angst…“

„Wir verstehen deine Angst“, sagt Phil sanft. „Aber das, was dort passiert, darf nicht weitergehen. Es ist unser Job, dafür zu sorgen, dass du in Sicherheit bist. Und das werden wir.“

Florian, der bisher leise neben ihnen gestanden hat, nickt zustimmend. „Du bist mutig, Toni. Es ist nicht einfach, so etwas zu erzählen. Aber du hast den ersten Schritt gemacht. Und das ist der wichtigste.“

Toni sieht die drei Männer an, unsicher, ob sie ihren Worten trauen kann. Sie hatte gelernt, niemandem zu vertrauen. Aber hier, in diesem Raum, fühlt sie zum ersten Mal seit langer Zeit, dass diese Menschen es vielleicht wirklich ernst meinen.

Phil legt ihr sanft eine Hand auf die Schulter. „Wir können das nicht ungeschehen machen, was dir passiert ist, aber wir können dafür sorgen, dass du nie wieder in so eine Situation kommst. Und wir können den richtigen Leuten Bescheid sagen, damit sie dir helfen.“

Toni schluchzt leise, während sie den Schmerz, die Angst und die Schuld, die sie so lange mit sich herumgetragen hat, langsam loslässt. Die Worte von Phil, Alex und Florian geben ihr ein Stück Sicherheit, das sie schon lange nicht mehr gespürt hat.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll“, flüstert sie schließlich.

„Du musst gar nichts sofort tun“, sagt Phil beruhigend. „Wir werden dich unterstützen, Schritt für Schritt. Du bist nicht allein. Wir stehen an deiner Seite, egal, was passiert.“

Toni nickt zögernd, während die Tränen langsam versiegen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt sie, dass es vielleicht einen Ausweg gibt – einen Weg, der sie aus der Dunkelheit führt, die sie so lange gefangen gehalten hat.

Mut im Schatten (ASDS FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt