Kapitel 10 ~ Offenbarungen und Geheimnisse

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Ich lag ausgestreckt auf dem Bett im Gästezimmer und starrte teilnahmslos Löcher in die Luft. Es schien mir rätselhaft, wie es möglich war, dass sich die Welt weiter drehte und sich innerhalb so einer kurzen Zeitspanne mein ganzes Leben von Grund auf verändert hatte. Es war nichts mehr, wie die Jahre zuvor. Außer vielleicht die Erscheinung meines Körpers, der noch immer so normal und langweilig aussah und weiter machte, als wäre nichts gewesen. Er pumpte noch immer weiterhin Luft in seine Lungen, sein Herz schlug noch immer gleichmäßig in seiner Brust und er hatte noch immer nicht begriffen, dass er eigentlich mit den vergeblichen Bemühungen aufhören konnte mich weiterhin am Leben zu erhalten. Denn ich selbst hatte mittlerweile resigniert. Ich selbst hatte aufgegeben. Mein ganzes Dasein bestand aus einem Geflecht aus Lügen, das früher oder später hatte in sich zusammenbrechen müssen. Dass es überhaupt so lange gehalten hatte, grenzte an ein Wunder. Ich fragte mich wirklich, wie ich diesen Betrug nicht hatte durchschauen können. Meine Eltern und meine Geschwister sahen mir zwar nicht sehr ähnlich, aber ich hatte mir zumindest immer eingebildet die Nase meines Vaters und die Augen meiner Mutter zu besitzen. Doch wie sich nun herausstellte, war das nur ein weiteres Trugbild gewesen, das ich mir in meiner Unwissenheit selbst erschaffen hatte. Machte es eine Sache weniger real, wenn man davon ausging, dass man jemand anderes war, als zu Beginn angenommen? Hatte es Emely Southman wirklich gegeben oder war sie nur eine Illusion, der ich mich 21 Jahre lang hingegeben hatte? Und wenn ja, was hieß das dann für mich? Was bedeutete es für meine Zukunft? Wie sollte ich weiter machen, wenn ich absolut nichts über mich wusste, außer dass ich ein Angsthase, die Durchschnittlichkeit in Person und ein Dreamer ohne Freunde und Familie war? Gab es überhaupt Hoffnung, dass ich je wieder jemandem vertrauen konnte? Dass ich weiter machen konnte? Ich fand keine Antwort auf auch nur eine dieser bedrückenden Fragen und das machte mich wirklich wütend. Es verdeutlichte mir nur, wie erbärmlich beschissen mein Leben doch war.

Langsam konnte ich nachvollziehen, dass manche Menschen mit dem Gedanken spielten sich selbst das Leben zu nehmen. Ich erblickte eine Vase, die auf einer blauen Kommode stand. Wie leicht es wäre sie zu zerschlagen und mir mit den Scherben die Pulsadern zu durchtrennen. Aber natürlich würde ich dieses Vorhaben niemals in die Tat umsetzen können. Ich hatte einfach viel zu viel Schiss vor den Schmerzen und den Konsequenzen. Außerdem war es auch nicht sicher, dass man nicht doch rechtzeitig von irgendjemand gerettet wurde. Dann wäre alles umsonst gewesen. Aber es war schon verlockend sich vorzustellen, dass auf einen Schlag all meine Probleme gelöst wären. Oder ich mich zumindest nicht mehr um diese kümmern musste. Es wäre so verdammt einfach gewesen hier und jetzt alles zu beenden. Aber wann war in meinem Leben schon jemals etwas einfach gewesen. Ich würde es nie schaffen endgültig einen Schlussstrich zu ziehen. Dafür war ich ein zu ängstlicher Mensch (oder Dreamer), der sich zu viele Sorgen um jede Kleinigkeit machte und die Vorstellung nicht ertragen konnte, dass die Leute, die einen groß gezogen hatten, sich die Schuld an all dem gaben. Auch wenn das nach allem, was sie mir verschwiegen hatten, eigentlich nur gerecht gewesen wäre. Ach verdammt! Mit voller Wucht schlug ich meine Faust gegen die Wand, sodass die Haut über meinen Knöcheln aufplatzte und feine, rote Flecken auf der Tapete hinterließ. Der Schmerz, der dabei durch meine Hand hindurch schoss, gab mir den Beweis dafür, dass ich tatsächlich noch am Leben und das hier alles kein Traum war. Ich glitt zu Boden und vergrub mein Gesicht in meinem Schoß. Was tat ich noch hier? Ich wusste es nicht. Wusste gar nichts mehr.

Mit den Stunden, die verstrichen, beruhigten sich meine durcheinanderwirbelnden Gedanken allmählich und wurden zu zähflüssigen Gedankenfetzen, die ich so gut es ging ausblendete. Ich begann gelangweilt im Zimmer umherzuwandern. Nun konnte ich nachvollziehen, wie sich ein eingesperrter Tiger fühlen musste. Es war unerträglich ruhelos hin und her zu streifen, ohne die Möglichkeit entkommen zu können. Denn ich wusste, dass es an jedem anderen Ort der Welt nicht besser gewesen wäre. Vor seinen Gedanken konnte man nicht fliehen. Nach einer Weile begann ich in Ermangelung einer Beschäftigung die Blumen auf der Tapete zu zählen. Da ich immer wieder eine übersah und mich andauernd verzählte, stellte das eine zeitraubende Aufgabe dar, in die ich mich voller Eifer stürzte. Denn diese war zwar total sinnlos, aber war das mein bisheriges Leben nicht auch gewesen? Es hatte etwas Beruhigendes an sich einer Sache nachzugehen, die mir zwar eigentlich nicht weiter half, ich jedoch auch nicht versauen konnte. Denn wer prüfte schon nach, ob es stimmte, was ich am Ende herausbekam oder nicht? Es war völlig egal. Schlussendlich kam ich auf 756 Stück und gab mich damit zufrieden. Ich fand es war eine schöne Zahl. Und auf einmal gefielen mir Zahlen ziemlich gut. Denn Zahlen konnten nicht lügen. Zahlen erzählten eine Wahrheit und besaßen Regeln, nach denen man sich richten konnte. Etwas, das mein Leben nicht zu kennen schien.

I'm a Dreamer - ErkenntnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt