Wir traten hinaus in einen langen, leeren Gang. Die Wände waren ausgekleidet mit dunkelrotem Samt, was mich an Königshäuser und Schlösser denken ließ. Es war so vollkommen anders, als der Raum, in dem ich aufgewacht war. Ich blieb erst einmal mit weit geöffnetem Mund mitten im Gang stehen und bestaunte die Pracht des Gebäudes. Von den Decken, die so hoch waren, dass ihn nicht einmal ein ausgewachsener Elefant hätte berühren können, hingen Kristallleuchter und verströmten ein eigentümliches, warmes Licht. Der Boden bestand aus hellem Mamor und war in regelmäßigen Abständen mit einem Muster aus purem Silber versehen. Bei genauerer Betrachtung erkannte ich, dass es das Zeichen war, das sich auch in meinem Nacken befand. Die silberne Spirale mit den winzigen Blättern und der dicke, silberne Stamm, der darunter zu sehen war und in dem diese seltsamen Zeichen standen, deren Bedeutung ich nicht verstand, ließen mich langsam in die Hocke gehen und vorsichtig mit den Fingern darüber streichen.
"Was ist das, Leon?", wollte ich neugierig wissen und fuhr die filigranen Linien vorsichtig nach.
"Das ist das Zeichen der Entscheidung. Es kann für den endgültigen Winter und den kommenden Untergang stehen oder aber für einen nahenden Sommer, der neue Früchte mit sich bringt. Je nachdem, wie man es deutet. Und es ist das Zeichen, das die Auserwählte laut der Legende trägt", kam prompt die Antwort von Leon. Sein rechtes Auge fixierte mich dabei eindringlich, während sein Linkes noch blauer geworden war, wenn das überhaupt möglich war. Zumindest hatte mittlerweile seine Nase aufgehört zu bluten, was mich mit etwas Erleichterung erfüllte. Ich hätte nicht gleich so überreagiern dürfen. Ab jetzt musste ich wirklich aufpassen, was ich tat. Ich hatte eine viel zu große, unbekannte Kraft, die in mir schlummerte und die ich nicht wirklich kontrollieren konnte. Schließlich wollte ich nicht noch weiter Unschuldige verletzen. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich das ab jetzt ändern sollte. Es war einfach alles zu neu und verwirrend für mich. Ich war das Monster und nicht Leon. Ich war diejenige, die ihn so stark geschlagen hatte, dass seine Nase gebrochen war. Ich war diejenige, die Finn, einem kranken Dreamer mehr vertraut hatte, als meinem ehemals besten Freund. Ich war es, die zugelassen hatte, dass er meine Oma umbrachte. Und ich war es gewesen, die einfach vor ihren Problemen davongelaufen war, wie ein feiges, kleines Baby. Warum also trug ich so ein bedeutsames Zeichen? Ich war eine Versagerin. Schon immer gewesen und daran würde sich auch nie etwas ändern. Warum war nicht Leon derjenige, der das silberne Mal trug? Er hätte es gewiss ohne Probleme hinbekommen die Welt zu retten. Ich würde sie nur in den Untergang stürzen, wie es mir bereits in meinen Träumen vorhergesagt wurde. Ich war nicht dafür gemacht eine Heldin zu sein.
Geschlagen ließ ich den Kopf hängen und meine Haare vor mein Gesicht fallen, sodass Leon nicht sehen musste, was in mir vor sich ging. Ich konnte das einfach nicht. Alle setzten so große Hoffnungen in mich, aber diese würde ich nie im Leben erfüllen können. Selbst wenn ich es gewollt hätte und damit das Risiko einging am Ende zu sterben. Wie stellten sie sich das bitteschön vor? Ein bisschen Gedankenlesen, stärker zu sein, als ein normaler Mensch, in Träume schlüpfen zu können und ein seltsames Mal im Nacken zu tragen, machte mich doch noch lange nicht zu jemand anderem. Ich war noch immer dieselbe, schwache Person, wie vor meiner Verwandlung. Und daran würde sich auch niemals etwas ändern. Das wusste ich ganz sicher.
Auf einmal spürte ich eine leichte Berührung unter meinem Kinn, die mir kleine, wohlige Schauer den Rücken hinunter jagen ließ. Mein Kopf wurde vorsichtig angehoben, sodass ich gezwungen war in Leons hübsches Gesicht zu sehen, das selbst mein Faustschlag nicht hatte entstellen können. Sein Mund umspielte ein winziges, trauriges Lächeln und ich konnte etwas in ihm erkennen, was ich schon lange nicht mehr gespürt hatte. Echte Bewunderung.
"Lass den Kopf nicht hängen, Krümel! Du bist in letzter Zeit viel zu oft betrübt und ernst. Auch wegen mir, ich habe dir mehr Probleme bereitet, als gelöst. Dabei war doch eigentlich genau das meine Aufgabe. Ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Das tut mir wirklich leid. Ich war ein schlechter Freund. Ich weiß, ich habe dich schon so oft um Verzeihung gebeten, aber ja.... Meinst du Du kannst mir noch einmal vergeben? Ich verspreche dir ab jetzt auch wirklich ehrlich zu sein. Keine Lügen mehr. Großes Indianerehrenwort."
DU LIEST GERADE
I'm a Dreamer - Erkenntnis
Science FictionJeder kennt sie, jeder beneidet sie, jeder hasst sie. Die Dreamer. Menschen, die aussehen wie du und ich und es doch nicht sind. Menschen, die die Gabe haben, sich in deine Träume zu schleichen und dich dort zu verletzten, wo du es am wenigsten erwa...