Kapitel 1

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Ich betrachtete das Weinglas vor mir. Alles war interessanter, als diesem Mann noch länger zuzuhören. Inzwischen hatte ich etwas über seine gesamte Lebensgeschichte erfahren, wovon mindestens 50% gelogen war. Dabei interessierte uns alle nur eins: schuldig oder unschuldig?  Ich saß mit meinem Kollegen, Mark und Eduard, im Esszimmer eines Mannes, dessen Namen ich schon wieder vergessen hatte. Wir arbeiteten bei einem Unternehmen, das sich um Verbrechen kümmerte, die die Polizei mangels vorliegender Beweise als ungeklärt eingestuft hatte. Natürlich war diese ganze Sache illegal, da wir mit unseren Beweisen nicht zur Polizei gehen konnten und es ihnen deshalb selber heimzahlten. Einigen wurde dann nur das Geld zurück gestohlen, was sie geklaut hatten, andere wurden jedoch gefoltert oder ermordet, wenn sie selbst jemandem Leid zugefügt hatten. Dank unserer Gaben, die wir Savants besaßen, war es relativ leicht festzustellen, ob jemand schuldig war. Wenn davon also ein anderer Savant was mitbekommen sollte, säßen wir allesamt im Gefängnis.
"Und wie sind sie zu diesem ganzem Geld gekommen?" Fragte ich und versuchte etwas Bewunderung in meine Stimme zu legen. Entweder war es mir nicht gelungen, oder ich hatte gerade jemanden beim Reden unterbrochen, denn der Mann schaute mich etwas verwundert an. Vielleicht lag es auch daran, dass es das erste war, was ich seit gefühlten 100 Stunden gesagt hatte.
Tu doch zumindest so, als würde es dich interessieren! Kannst du nicht einmal versuchen, etwas mehr Emotionen in deine Stimme und in deinen Gesichtsausdruck zu legen? Donnerte Eduards Stimme per Telepathie in meinen Kopf. Wir Savants konnten alle telepathisch miteinander kommunizieren.
"Ich habe sehr viel Geld im Lotto gewonnen", sagte der Mann stolz. Hätte ich nicht eine Gabe, die einem Lügendetektor stark ähnelte, hätte ich das vielleicht sogar geglaubt, aber stattdessen sah ich seine Erinnerungen, als er eine reiche Familie ausraubte.
Meine Gabe bestand darin, dass ich, immer wenn jemand sprach, seine Erinnerungen daran sah, begleitet von einem Summen, einer Art Melodie. Wenn jemand mir jedoch eine Lüge erzählte, hörte das Summen auf. Dann sah ich auch seine Erinnerung daran, egal was mir erzählt wurde. Wenn mir also jemand sagen würde, dass er mit der Bahn gefahren sei, obwohl er zu Fuß gegangen ist, würde ich sehen, wie derjenige zu Fuß nach hause gegangen ist, obwohl er mir etwas anderes erzählt hat. Auch bei Informationen sah ich Erinnerungen, Erinnerungen die zeigten, woher diese Person das wusste. Nur bei Gefühlen setzte meine Gabe manchmal aus. Dann sah ich keine Erinnerungen, denn hier gab es mehr als nur Lüge und Wahrheit. Zum Beispiel konnte "Ich mag dich" alles mögliche heißen (Ich mag dich ein bisschen/ ich mag dich sehr). Bei Teilwahrheiten sah ich normalerweise die ganze Wahrheit, aber Gefühle konnte man einfach nicht in Bildern ausdrücken.
Man könnte denken, dass dieses Summen ziemlich nervig sei, ist es aber gar nicht. Nervig wird es erst dann, wenn jemand immer abwechselnd lügt und dann wieder die Wahrheit sagt, denn dieser ständige Wechsel zwischen summen und nicht summen ist echt unerträglich. Und falls jemand dachte, dass doch gar nicht soo viel gelogen wurde, lag absolut falsch. Allein "Guten Tag" war manchmal schon eine Lüge.
Da wir jetzt herausgefunden hatten, dass dieser Mann definitiv schuldig war, konnten wir hoffentlich gehen.
Er lügt, teilte ich den anderen mittels Telepathie mit.
Aber nein, Eduard hatte sich dazu entschlossen sich noch weiter mit dem Mann zu unterhalten.
"Sind sie eigentlich verheiratet?" Fragte Eduard interessiert.
"Ja, seit einigen Jahren", antwortete der Mann ihm grinsend. Seit dem er so reich ist wahrscheinlich.
"Sie haben sicher eine gute Beziehung zu ihrer Frau", sagte Mark, der eher vom Gegenteil überzeugt war.
"Natürlich", sagte er, aber ich sah Erinnerungen, wie er seine Frau schlug. Ich zuckte zusammen. Das erinnerte mich viel zu sehr an meine Mutter und meinen Vater. Ich verdrängte die Bilder und den Schmerz, der in mir aufkam.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Mark mich beobachtete. Dann sagte er: "Es ist schon spät, ich denke wir müssen los. Es hat uns wie immer gefreut sie zu treffen."
Warum konnten die Leute in meiner Anwesenheit nicht mal aufhören zu lügen?
Ich schnappte mir meinen Mantel und ging nach draußen. Eduard und Mark waren noch höflich genug, um sich zu verabschieden. Aber wozu Höflichkeit, wenn wir ihn doch heute nacht eh ausrauben würden?
Kurze Zeit später hatten es Eduard und Mark endlich geschafft, das Haus zu verlassen.
"Haben sie wirklich eine gute Beziehung?" Fragte Eduard mich.
"Er schlägt sie", sagte ich.
"Er schlägt sie", ahmte Eduard meinen monotonen Tonfall nach, "Er schlägt sie! Wie wäre es mit ein bisschen mehr Anteilnahme?"
Ich schaute ihn nur ausdruckslos an. Mark sagte nichts dazu. Er wusste, dass ich nicht so emotionslos war, wie ich auf andere wirkte. Er konnte meine Gefühle sehen. Das war seine Gabe.

Forgetting DonnyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt